Bücher der Autoren:
Crauss, Berlin Neun Neun, HAND Verlag, Siegen Crauss, Streichungen, HAND Verlag, Siegen Crauss, Ein scharfes Bild, HAND Verlag, Siegen Crauss, Crausstrophobie, Lyrikedition 2000, München Adrian Kasnitz, Lippenbekenntnisse, parasitenpresse*, Köln Adrian Kasnitz, Reichstag bei Regen, Lyrikedition 2000, München Björn Kuhligk, Am Ende kommen Touristen, parasitenpresse*: Köln Björn Kuhligk, Draußen fällt ein Vogel, Cottbus Björn Kuhligk, Es gibt keine Küstenstraßen, Lyrikedition 2000, München Björn Kuhligk, Am Ende kommen Touristen, Berlin Verlag Tom Schulz, Trauer über Tunis, parasitenpresse*, Köln Jan Wagner, Probebohrung im Himmel, Berlin Verlag
*erhältlich bei Wassiliki Knithaki, Marienstr. 39, 50825 Köln
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Überblick über neue deutsche Lyrik.
Ein Essay von Enno Stahl mit O-Tönen der Dichter.
Mehr als jede andere Disziplin ist die Lyrik Gradmesser von Umschwüngen, Brüchen, Paradigmenwechseln. Häufig deutet sich hier bereits an, was sich im Roman erst Jahre später manifestiert. Das Gedicht in seiner Kürze, in seiner Verknappung und Konzentration, ist eine Art Leitwährung der literarischen Innovation. Ein solcher Epochenwechsel trug sich zuletzt Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre zu, als Dichter wie Bert Papenfuß im Osten, Thomas Kling im Westen die Bühne betraten. Mit ihren Sprachklitterungen bildeten sie den Zustand der beiden deutschen Staaten
mimetisch ab und wiesen voraus auf das, was dann geschah. Die vielgefeierten Durs
Grünbein und Raoul Schrott, die als die Dichter der 90er Jahre angesehen werden,
erschöpften sich dagegen in ihrer Eigenkanonisierung. Sie arbeiteten so, schon formal gesehen, gewissen restaurativen Tendenzen zu, deren die Berliner Republik in ihrer Neukonstitution anscheinend bedarf. Gegen Ende der 90er Jahre aber hat sich eine Riege junger Lyriker formiert, Jan Wagner, Ron Winkler, Björn Kuhligk und Tom Schulz aus Berlin, Crauss aus Siegen, Adrian Kasnitz aus Köln, um nur einige zu nennen.
Diese Autoren, allesamt Ende Zwanzig, Anfang Dreißig, dichten auf eine neue,
zugleich unspektakuläre Weise, unangestrengt, nahe an der Alltagssprache, aber
bilderstark.
Etwa in Adrian Kasnitz’ Gedicht „Reichstag bei Regen“: eine Baustellenszene bei schlechtem Wetter, geradezu trivial und doch vielsagend: es handelt sich um den Reichstag, die neugestaltete Volksvertretung, die Baustelle Deutschland also. Die Sprache verzichtet auf die Aufspaltungen und Code-Brüche der 80er Jahre, sie wird akzeptiert mit all ihrer Problematik. D.h. sie ist nicht selbstverständlich, diesen Ballast hat auch die junge Generation übernommen. Ihr Verhältnis zu den Vorgängern ist daher tatsächlich ambivalent, wie Björn Kuhligk betont:
Kuhligk: Es gibt auf jeden Fall 'nen Einfluss von der vorherigen Generation, gleichzeitig versucht man sich aber abzustoßen davon, um was Neues zu machen, was immer das auch sei, das kann man so oder so nicht mehr machen, aber man kann es als Material einfach benutzen.
Auch Kasnitz spricht davon, dass man sich an den Traditionen abzuarbeiten habe,
dass neue Ausdrucksformen nur in bewusstem Bezug darauf entstehen können. Es
geht also um einen geordneten Neuaufbau, die Lyriker dieses Kontexts sind keine
jungen Wilden, die alles niederreißen wollen, was vorher existierte. Skepsis hat Einzug gehalten, vorsichtige Innovation, vorsichtiger Umgang mit Sprache. Die poetologischen Forderungen sind dazu passend, nämlich extrem tief gehängt. " Das
Gedicht braucht keine festgelegte Poetik. Es braucht Grenzen, die im Moment nicht
zu bestimmen sind, da sie durch das Permanent-Wechselnde des Inneren ihre Grenzen bestimmen", schreibt Björn Kuhligk in einem kurzem Theorie-Text, der in der von Ron Winkler herausgegebenen Zeitschrift "Intendenzen" erschienen ist, einem der maßgeblichen Organe dieses Autoren-Zusammenhangs. Das pocht auf Subjektivität und enthält sich in auffälliger Weise jeglicher Festlegung. Ein anderer Passus bezieht da eher Position: "Das Gedicht braucht Bilder. Es müßte permanent eine Kamera mit sich führen." Doch ihn möchte Kuhligk heute schon nicht mehr unterschreiben:
Kuhligk: Ich würd' das so nicht mehr sagen, das ist veraltet. Ich würde überhaupt nicht mehr auf Bilder eingehen. Ich würde, wenn ich eine Poetologie schreiben müsste, dann würde ich einfach nur noch einen Satz schreiben, der würde lauten: Das Gedicht ist nur eine Möglichkeit. Es ist eine Ausdrucksform, einfach. Man hat die
gewählt aus bestimmten Gründen, in diesem Fall, weil sie kurz ist, weil es den Reiz
darin gibt, mit Sprache zu arbeiten, also mit einem minimalen Wortaufwand etwas
sehr Maximales rauszuholen, aber im Endeffekt ist es nur eine Form, man könnte
malen, man könnte komponieren oder Anderes tun.
Nach langen Zeiten, in denen die poetische Methode oder auch der
Gesellschaftscharakter der Lyrik im Zentrum des Interesses stand, wird jetzt auf
einen elementaren Erlebnisgehalt des Gedichts rückgeschlossen:
Kuhligk: Ja, es hat Tagebuchcharakter, denk ich, dass man einfach sich vielleicht besinnt auf,
ich nenne es immer gern: "Die neue Zerbrechlichkeit", also dass man das "Ich"
einfach mal versucht, in den Vordergrund zu stellen und damit zu arbeiten.
Während Kuhligk diesen extremen Grad an Subjektivität für das Gedicht veran-schlagt, plädiert Kasnitz weiterhin für den Einsatz von Bildern und Metaphern, die ja auch Distanz schaffen, differente Lesarten des Textes ermöglichen:
Kasnitz: Sie bieten aber neue Zugänge zum Verstehen und man kann halt dadurch eine neue Perspektive gewinnen und halt neues Wissen neu aufdecken, indem es durch so geläufige Redewendungen verdeckt wird, also neue Perspektiven, die so durch Redewendungen der Alltagssprache so eingefahren sind, dass diese Perspektiven gar nicht mehr wahrnimmt.
Subjektivität UND Sprachkritik, das sind die beiden Pole, zwischen denen sich die
Intentionen bewegen, der individuelle Zugang der einzelnen Autoren ist dabei
natürlich verschieden, wie Kuhligk bestätigt:
Kuhligk: Also, es gibt zwar Gemeinsamkeiten, denk' ich, das beruht eher darauf, dass man sich kennt und gegenseitig das wahrnimmt, was der Andere macht und sich daran auch schult. Es gibt, denk' ich, aber mehr Unterschiede, weil jeder einen völlig anderen Ansatz hat. Der eine machts experimenteller, der anderer traditioneller, und ich denke, das ist bei dieser Generation genauso, wie bei den davorherigen, dass es einfach eine große Bandbreite gibt.
Eher zum Experimentellen tendiert sicher die Arbeit des Siegener Autors Crauss, der bisweilen mit verschiedenen Typografien, englisch-sprachigen Einsprengseln und harter Montage operiert, um etwa das „drum ‘n bass berlin“ abzuprägen.
Jeder dieser Poeten steht für sich, aber vergleicht man sie mit den Altersvorgängern
sind ihre Gemeinsamkeiten untereinander stärker, als sie selber glauben. Jan Wagner, der 2001 als erster aus diesem Kreis mit seinem Band "Probebohrung im Himmel" ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte, widmet sich ebenso dem alltäglichen Erleben und dessen nahezu unsichtbaren, poetischen Sprüngen wie sein Freund Kuhligk. Der brachte in diesem Frühjahr eine erste umfangreichere Gedichtsammlung heraus, wie Wagner im Berlin Verlag.
Vor und neben diesen beiden Publikationen im großen Publikumsverlag gab es eine
Reihe kleinerer Veröffentlichungen, Crauss und Kuhligk brachten Bücher in der von
Heinz-Ludwig Arnold betreuten Book-on-Demand-Reihe "Lyrik-Edition 2000" heraus, in diesem Sommer folgt dort ein Band von Adrian Kasnitz. Dieser betreibt zudem in Köln mit Wassiliki Knithaki eine Mini-Edition, die "parasitenpresse", wo unter anderem wiederum Kuhligk und Tom Schulz veröffentlicht wurden.
Schulz, ebenfalls Berliner, verschmilzt detailgenaues Registrieren der urbanen
Umgebung mit Einflüssen aus dem Bereich der "hard-boiled-poetry" und
intellektuell-erkenntniskritischen Tendenzen. Seine Gedichte beziehen allgemeinere
gesellschaftliche Positionen, die Wahrnehmung wird durch die soziale Realität
politisiert.
Ob "neue Zerbrechlichkeit" oder Wiedererstarken einer "neuen Subjektivität", die
lyrischen Positionen, die hier deutlich werden, vereinen ein starkes Form- und
Traditionsbewusstsein mit unvoreingenommenem Bekenntnis zum "poetischen Gefühl". Wie sehr auch in Zukunft die individuellen Wege auseinander streben mögen, diese Ansätze scheinen davor gefeit zu sein, zur Germanisten- oder Schreibtischpoesie zu verkommen. Deutsche Lyrik im neuen Jahrtausend, man darf darauf gespannt sein!
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