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Dezember 2002
Christina Mohr
für satt.org

Kurt Cobain:
Tagebücher

1988 - 1994
Kiepenheuer & Witsch, 2002
(erschien zeitgleich mit der Originalausgabe bei Penguin Putnam)

Cobain Tagebuch

übersetzt und herausgegeben von Clara Drechsler und Harald Hellmann
315 Seiten, geb.
19,90 EUR
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Kurt Cobain
Tagebücher 1988 - 1994


Als ich die Nachricht von Kurt Cobains Tod erfuhr, stand ich hinter der Theke meiner Stammkneipe, in der ich als Studentin jobbte, spülte Gläser, zapfte Bier und im Hintergrund lief Nirvana, Nevermind.

Nun hatte er es also geschafft, nachdem der erste Selbstmordversuch vier Wochen zuvor in einem Hotel in Rom schiefgegangen war. Ich brauchte mich also nicht mehr um Tickets für die angekündigte Deutschland-Tournee zu bemühen. Tief in der Nacht ging ich nach Hause und schaute bis zum Morgengrauen MTV: trauernde Teenager vor Kurts Haus, die sich in den Armen hielten, Kerzen anzündeten und über Lautsprecher Courtney Loves Stimme, die immer und immer wieder sagte „You´re an asshole".

Kurt Cobain oder Kurdt Cobean, wie er zuweilen unterschrieb, verübte am 8.4.1994 einen „richtigen“ Rock’n’Roll-Selbstmord, wie es vorher nur Ian Curtis von Joy Division getan hatte. Alle anderen sind versehentlich an ihrer Kotze erstickt oder in der Badewanne ersoffen. Kurt hat sich bewusst die Knarre an den Kopf gehalten und konnte nur anhand seines Gebisses eindeutig identifiziert werden. Er hatte sich bewusst entschieden, nicht älter als 27 zu werden, so alt wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison. Er war der erste Rockstar, um den ich ernsthaft trauerte.

Neun Jahre später hat seine Witwe Courtney Love beschlossen, einen Teil seiner „Journals“ zu veröffentlichen und sofort brandete eine Welle des Vorwurfs (die Courtney ja nicht zum ersten mal trifft) auf: Leichenfledderei sei das und Kurt hätte das sicher nicht gewollt, würde sich im Grabe rumdrehen, etc.pp.

Wozu die vorhersehbare Aufregung? Kurt Cobain ist ein toter Popstar, der ganz sicher wusste, dass nach seinem Tod derselbe Mechanismus wie bei allen toten Popstars in Gang kommen würde. Schließlich hätte er auch alle Tagebücher verbrennen können - was er nicht tat. Ihm war klar, dass sich jemand um seinen Nachlass kümmern würde, nach Entwürfen für neue Songs stöbern und in seinen Briefen, Einkaufszetteln und Tagebüchern lesen würde. Und nach Erklärungen für seinen Horrorschock-Selbstmord suchen: was konnte so schlimm sein, dass sich ein junger, begabter und millionenschwerer Musiker, Vater einer kleinen Tochter den Kopf wegpustete?

Dieses Geheimnis wird nicht gelüftet, es sei denn, dass ihm tatsächlich seine Magenprobleme, die ihn sein Leben lang begleiteten und die er irgendwann mit Heroin zu betäuben versuchte ("Wenn ich mich schon fühle wie ein Junkie, kann ich auch gleich einer werden."), das Weiterleben unmöglich machten. Allerdings ist die Vorstellung eines kotzenden Rockstars, der sich wegen Magenschmerzen umbringt, reichlich unglamourös – sofort drängt sich die Frage nach den möglicherweise psychischen Ursachen seiner Schmerzen auf – aber dies bleibt auch nach der Lektüre der Tagebücher Spekulation. Allerdings wird der Mythos entkräftet, dass Cobain an der Plattenindustrie und am Pop-Business zugrunde ging. Er erscheint keineswegs als einer Maschinerie ausgeliefert, bis zum Schluss hielt er die Nirvana-Fäden fest in der Hand. Trotz Drogensucht und Selbstzweifel war er nie mutlos, immer bereit für die Revolution und für den Kampf gegen Sexismus. Düsternis oder Todessehnsucht machen sich nur selten bemerkbar.

Viele der Texte sind Briefe und Notizen an Bandmitglieder, Freunde oder auch Journalisten: „There are more bad rock journalists than bad rock musicians". Das heißt, Kurt schrieb sowieso für eine wie auch immer beschaffene Öffentlichkeit und entkräftet von daher selbst den Vorwurf des Entblößens seiner Privatsphäre.

Das Dilemma des Unterfangens „Kurt Cobains Tagebücher“ offenbart sich in erster Linie im Anspruch des Verlages: die deutsche Ausgabe ist gebunden, hat einen Hochglanzschutzumschlag, ist mit editorischen Anmerkungen versehen, kostet zwanzig Euro und ruft ganz deutlich nach Feuilletonrezeption. Kurt schrieb und kritzelte auf Collegeblocks, deren kopierte Seiten im Buch abgedruckt sind. Wollte der Verlag Nirvana und Kurt Cobain aus der Grunge-Schmuddelecke holen? Das wäre nicht nötig gewesen, da die Bedeutung des Schaffens von Nirvana nie angezweifelt wurde. Mit ihrem vergleichsweise kleinen Oevre wirkten sie stilbildend und epochemachend gleichermaßen (man stelle sich die Neunzigerjahre ohne „Smells like Teen Spirit“ vor!), eine Rehabilitierung des Künstlers Cobain stand nie zur Debatte. Für wen ist nun dieses Buch, dieses Zwitterprodukt gedacht? Für Devotionaliensammler? Nur eine kleine Indierock-Minderheit kennt die Melvins, Team Dresch und Shonen Knife, die für Kurt Cobain so wichtig waren, auch seine Anfeindungen an Labels wie Sub Pop kann kein großes Publikum verstehen. Die Aufmachung und Lancierung der Tagebücher hat zur Folge, dass die Financial Times Deutschland munter Cobain und Dieter Bohlen in einen Artikel zusammenwirft und dabei Bohlens „Autobiografie“ beim Verfasser besser wegkommt, weil sie den größeren Unterhaltungswert bietet. Ach.

Übrig bleiben die Scribblings eines jungen Mannes, der kein weißer Macho sein wollte, der sich selbst als Feminist bezeichnete und der mal hochpoetisch, mal aggressiv seine Gedanken, Stimmungen und seinen Zorn aufs Papier brachte. Kurt Cobain konnte auch verdammt witzig sein: siehe seine selbstverfassten Nirvana-Pressetexte, in denen er verspricht, dass die Band niemals Standards wie Louie Louie oder Gloria als Zugaben spielen wird oder „Bitching about Prog-Rock". Andere Texte wie der Brief an seinen Vater oder ein längerer Eintrag über (seine) Drogenabhängigkeit zeigen Kurt reflektiert und verantwortungsbewusst – darauf folgen seitenlange High-Fidelity-artige Hitlisten, die Kurts aktuelle Lieblingsbands und –songs beinhalten. Wirklich gut sind seine Comics oder Band-T-Shirt-Entwürfe, die ihn als begabten Zeichner zeigen. Er hasste die Öffentlichkeit und tat doch alles, um Nirvana berühmt zu machen. Seine Auftritte mit Nirvana gerieten oft derart selbstzerstörerisch, dass es verwundert, dass er sie überlebte. Die Aufzeichnung für das MTV-Unplugged-Konzert wirkt wie eine Inszenierung seiner eigenen Beerdigung. Nach Kurts Tod galt für seine Mitmusiker das Joy Division-Prinzip: die anderen Bandmitglieder, die sich als „lebenstüchtiger“ erwiesen hatten, machen nach dem Tod des tragischen Helden weiter großartige Musik – aber die Tiefe und Intensität, die offenbar nur durch Schmerz entsteht, erreichen sie nie mehr.