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Januar 2003
Tobias Lehmkuhl
für satt.org

Paolo Ruffilli:
Dunkelkammer

übersetzt von Tobias Burkhardt und Rüdiger Fischer
Verlag im Wald
Rimbach 2002

Paolo Ruffilli
Dunkelkammer


Paolo Ruffilli stellt seinem Gedichtband „Dunkelkammer“ ein Zitat voran, das er Roland Barthes’ großem Fotografie-Essay „Die helle Kammer“ entnimmt. Wie der gegensätzliche Titel schon ahnen lässt, handelt es sich bei Ruffillis Gedichten allerdings nicht um in Verse gesetzte Theorie. „Dunkelkammer“ ist eine Familienbiographie, die anhand von Fotografien mitgeteilt wird: Auf eine kurze Bildbeschreibung folgt eine Reflexion über das Umfeld, in der die Aufnahme entstand. Dabei sucht Ruffilli nicht nach dem enthüllenden Schock-Effekt, um den es Barthes geht (den Moment, wo das studium durch das punctum durchbrochen wird, wie es in „Die helle Kammer“ heißt). Der Dichter stellt sich im Gegensatz zum Philosophen bevorzugt der Fremdheit und Undurchdringlichkeit, die die meisten Fotografien besitzen: „Doch ich erkenne sie nicht./ Ich schaue sie an/ und sehe sie nicht: diese Art/ ist mir nicht vertraut“, heißt es über eine Fotografie der Mutter – bei Barthes hingegen dient eine Fotografie der Mutter dazu, sie über ihren Tod hinaus nah zu wissen.

Eine der Bildbeschreibungen lautet: „Fast kahlköpfig/ ein rundes Gesicht,/ gezeichnet von einem dichten,/ dunklen Schnurrbart./ In seiner Jacke/ aus Barchent,/ mit einem Streifen/ schwarzen Samtes/ auf dem Revers./ Der Vater meines Vaters.“ Die Beschreibungen sind schlicht, gerade ausreichend, um im Leser ein Abbild zu evozieren. Aber was ist das für ein Abbild? Es hat nichts Besonderes oder Unverwechselbares, ist aber auch nicht beliebig. Die Figuren haben etwas ausgesprochen Gleichmütiges. Sie füllen ihre Rolle aus, verschwinden dann wieder. Ruffilli benennt sie mit einem gewissen Fatalismus: „sie sagt, schon damals/ habe sie Angst gehabt/ und sich nichts mehr erwartet/ von dem, was ihr bevorstand.“

Dies ist keine Abrechnung, und auch Verzweiflung ist etwas anderes. Es geht hier nicht um Bekenntnisse, um ein Ja oder ein Nein zum Leben, um Trauer oder Schuld. Es ist ein zähes Verharren bei den Dingen, den Verwandten, ein „Festgehaltensein/ vor dem Sterben.“ Die Fotografien haben keine unbedingte Notwendigkeit, sie könnten anders oder auch gar nicht sein, wie jede Fotografie (das sagt Barthes). Ruffilli weiß um diese Kontingenz, das ist es, was seine Gedichte so lesenswert macht: er drängt sie einem nicht auf oder entschuldigt sich für sie, sondern lässt sie einfach geschehen: „Auch er war jung/ und lernte die Wechselfälle/ und die Rolle der Liebe kennen/. Und doch halten wir uns/ an ein stummes Bündnis/ und tun, als wüssten wir nicht,/ daß der eine versucht,/ was der andere/ längst schon gemacht hat.“ Man lese auch das glänzende Nachwort von Giovanni Raboni.