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Februar 2003
Mascha Kurtz
für satt.org

Ricarda Junge:
Silberfaden

S. Fischer Collection, Frankfurt 2003

Ricarda Junge: Silberfaden

180 Seiten, EUR 12,00
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Ricarda Junge:
Silberfaden


Ricarda Junge hat die besten Voraussetzungen: Sie ist erst 24 Jahre alt, studiert am Leipziger Literaturinstitut und macht auch optisch was her, wie das Klappenfoto ihres Debüts zeigt. "Silberfaden", eine Sammlung von Erzählungen, verkauft sich hervorragend, was das alte Vorurteil der Verlage widerlegt, Erzählungen "gingen nicht". Erzählungen gehen, Judith-sei-Dank; Grund genug, auch mal in diesen Band reinzulesen und vielleicht herauszufinden, warum.

Bevor es losgeht, kommt ein tiefsinniges Zitat, das macht man inzwischen wieder so, und zwar zitiert man nicht Kollegen, sondern Popsänger. Hier ist es Heather Nova: "You’re watching your step but you fall as you’re walking/You take it in stride but still fall as you’re walking." Soll wohl heißen: Egal, was man versucht, man fällt sowieso aufs Maul. Nehmen wir das als Begleitmusik für die nun folgenden Texte und hoffen, dass der Autorin mit ihnen nicht genau das passiert.

Die Titel der Erzählungen sind kurz und verraten wenig: "Entfernt", "Ostwärts", "Nicht Persien", Sehnsucht schwingt mit und der Wunsch, woanders zu sein. Vier der zwölf Erzählungen spielen in den USA, ein paar andere sonstwo, der Rest in Berlin. Das Meer ist wichtig und Rauchen wird als Zeiteinheit eingeführt ("es dauerte nicht lange: elf Zigaretten") – etwas, das nicht einmal Judith Hermann eingefallen ist, der Königin der literarischen Kippenpause. Junge beschreibt Alltägliches detailgenau und mit einfachen Worten: "Eine der Katzen kommt ins Zimmer, reibt sich an meinem Bein. Sofort beginnt es zu jucken. Sie folgt mir die Treppe runter in die Küche. Ich schaufle Trockenfutter in den Napf." Die Anhäufung solcher Momente erzeugt eine Atmosphäre des Stillstands, der in den meisten von Junges Geschichten vorherrscht. Die Charaktere sind gefangen in ihren Leben, verstrickt in ihre Liebes- und Verwandtschaftsbeziehungen. In nur zwei Erzählungen geht sie darüber hinaus und thematisiert einmal Ausländerhass, einmal den militärischen Drill in amerikanischen Besserungscamps für Jugendliche. In den übrigen Texten geht es zum Beispiel um Freundinnen, die Geburtstag in einer Cocktailbar feiern, mit einem Hauch von lesbischer Boheme. Mädchen und Jungs trinken und rauchen und verstehen sich nicht, das ist alles. Es scheint um etwas zu gehen, tief drin, aber was das sein könnte, wissen Junges Figuren vielleicht selbst nicht. Es sind fast immer junge Frauen, mal dies-, mal jenseits des Atlantik lebend, die in der ersten Person von sich erzählen. Dadurch entsteht der Eindruck, es handle sich bei diesen vielen Ichs um Alter Egos der Autorin.

Wir lesen von Menschen mit schönen Namen wie Ben, Fabian, Ethan, Lane, Kerim, Jake, Janice, Joyce, Janusch, Tadeusz, Maja, Miriam und Marlene. Fast wünscht man sich, es käme auch mal ein Jürgen vor oder eine Sabine, doch die hätten womöglich ein weniger kompliziertes Gefühlsleben, und es gäbe nichts zu schreiben.

Das literarische Ich trifft einen "Barenberg", der riecht wie ein Mädchen und mit dem es sich nicht versteht, aber trotzdem mit ihm ins Bett geht. In "Lila" feiert es mit Freunden Silvester an der Ostsee und hat "keine Geschichte, die ich erzählen könnte. Ich habe in meinem Leben nur drei Männer geküßt. Einen Neonazi, danach Christoph, den der Neonazi einen Sesselfurzer nannte, danach Janusch. Janusch hat mich Lila genannt, und jetzt nennt mich jeder Lila." Ich vermute, die Erzählungen "Das Camp", "Nacht in New York. Morgen" und "Mai-Tai" sind die neusten Geschichten in diesem Band, denn es sind mit Abstand die besten. Vor allem in der letzten zieht Junge den Rolladen hoch, uns durchs Fenster, und auf einmal sind wir mittendrin in diesen fremden Leben. In "Mai-Tai" hat die Erzählerin einen Freund, der was gegen Türken hat: "Gegen Neger hatte er nichts, nur gegen die Türken, die seiner Familie das Barcelona weggenommen hatten. Mittlerweile gehörten fast alle Bars und Diskotheken in der Stadt Türken."

"Das Camp" ist aus Sicht der kleinen Schwester geschrieben, deren Teenager-Bruder aus dem Erziehungscamp seelisch gebrochen zurückkehrt.

"Nacht in New York. Morgen" beschreibt genau das: Die Erzählerin besucht ihre alte Freundin, die chaotische und selbstverliebte Janice, die stolz darauf ist, es aus der Provinz in die Großstadt geschafft zu haben. Zusammen gehen die Freundinnen auf eine schicke Sylvesterparty: "Janice sagt, Harris-Schätzchen, hier spielt die Musik, ich bin dein Mädchen. Und Harris sagt, ja, in Ordnung, aber mach die Schweißohrringe raus. Die sind nicht elegant." Diese Geschichte steht nicht umsonst am Ende des Buches, so behält man es in guter Erinnerung.

Wegen dieser drei Geschichten lohnt es sich vielleicht, "Silberfaden" zu kaufen; wegen dieser drei Geschichten wünschen wir uns, dass im nächsten Buch die Leute weniger rauchen, weniger exotische Namen tragen und weniger Probleme mit Männern haben, damit Ricarda Junge sich aufs Schreiben konzentrieren kann.







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