Die Fahrt nach Nirgendwo
Der Erdmann Verlag geht in drei Neuerscheinungen echten und erfundenen Reisen nach
Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob Marco Polo wirklich die Wüste Gobi gesehen hat? Oder ob auf einem Fisch Bäume wachsen können? Wie groß bzw. klein die Bewohner ferner Inseln sind, und wie viele Beine sie haben? Die Edition Erdmann ist dem großen Warum und dem Wahrheitsgehalt der Entdeckungsreisen auf der Spur. Was trieb viele Entdecker in eine unbekannte Welt voller Gefahren? Oder schrieben sie in einem Karzer, vom Krankenbett oder Schreibpult aus ihre Phantasien nieder? War es der Erkenntnisdrang, Abenteuertrieb, Flunkerei als Narretei? Verdienst der wunderschönen Bücher des Ermann Verlages ist es vor allem, die Wahrheiten behutsam zu formulieren. Editorische Eingriffe in den Originaltext beschränken sich auf das Nötigste, im Mittelpunkt steht stets der unverfälschte und unmittelbare Eindruck. Die Reise- und Entdeckungsberichte werden von Herausgebern betreut, die ausgewiesene Experten auf ihrem Gebiet sind. Sie ordnen in Vor- oder Nachworten die Texte und ihre Autoren in den historischen Kontext ein und diskutieren aktuelle Forschungsergebnisse.
Drei Neuerscheinungen dieses Jahres nehmen sich berühmter Reisen an. Stattgefundener und erdachter. Während Marco Polo, einer der bekanntesten europäischen Reisenden, mit seiner "Beschreibung der Welt" Maßstäbe für Literaten wie Entdecker setzte, zweifeln heute Spezialisten am Wahrheitsgehalt seiner Darstellungen. Herausgeber Detlef Brennecke gibt als Einstieg in die Neuauflage der Weltbeschreibung eine schlüssige, knappe Biografie des Venezianers im Gefüge seiner Zeitgeschichte. Brennecke, selbst Weltenbummler und ehemaliger Skandinavistikprofessor, hat sich bereits durch Biografien über Roald Amundsen, Sven Hedin und Fridtjof Nansen einen beachtlichen Ruf erarbeitet. Seine Ausgabe der Schriften Marco Polos ordnet die Reiseberichte nach gutem Verständnis und literarischer Qualität, die Unmöglichkeiten beschriebener Ereignisse stellt er voran. Mit großem Verständnis für den Kaufmann, der wahrscheinlich seine Erinnerungen während einer Gefangenschaft in Genua seinem Mitgefangenen Rustigielo diktierte. Egal, wie die "Beschreibung der Welt" entstanden ist, sie beflügelte nicht zuletzt Christoph Columbus, seine Schiffe gen "Indien" zu lenken. Hundertfach kopiert und ediert, haben die Reiseberichte Polos bis heute nicht an Attraktivität eingebüßt. Miguel de Cervantes Saaverdra erteilte in seinem Don Qiuxote der ausschweifenden Vor- und Darstellungskraft mit dem Argument Absolution; "dass die Lüge besser ist, je mehr sie wahr scheint, und umso mehr gefällt, je mehr sie Wahrscheinliches und Mögliches enthält …"
Heinrich Pleticha unternahm in der zweiten Neuerscheinung "Die Fahrt nach Nirgendwo" den mutigen Versuch, erdachte Reisen und erfundene Länder vorzustellen. Nach den Motti Fiktion als Satire, -Traum oder - Realität arrangiert Pleticha die Autoren von der Antike bis in die Gegenwart ein. Die erdachten Entdeckungsreisen Cyrano de Bergeracs, Jonathan Swifts, Jules Vernes uns Karl Mays finden hier ebenso Platz wie die Schriften John Mandevilles, Walter Raleighs, Mungo Parks oder der Johannesbrief – Das Reich des Priesters Johannes. Zeitgenössische Illustrationen untermalen die phantastischen Berichte von Riesen und Walen, Wäldern, die auf Fischen wachsen und zeigt die Kynozephali, Menschen mit Hundsköpfen. Die Texte variieren in literarischer Qualität und Dichte, dennoch überzeugt die Sammlung durch ihre bündige und gut erläuterte Edition. Herausgeber Pleticha edierte unter anderem die Reiseberichte von Mungo Park, Henry M. Stanley, David Livingstone, Theodore Cannot und Hans Meyer. Die erfundenen Länder sind mit so viel Phantasie und Humor beschrieben, dass ihre Lektüre bereichert und erfreut. "Auf einer anderen Insel leben Leute, die auf Händen und Füßen wie Tiere gehen. Ihr Leib ist ganz behaart; und sie sind gar behände von Baum zu Baum zu klettern, wie es Eichhörnchen und Affen tun. Auch gibt es da Menschen, die Mann und Weib zugleich sind. Doch sie heben nur auf einer Seite die Brust eines Weibes. Da sie zweierlei Gemächte haben, mögen sie mit dem des Mannes Kinder zeugen und mit dem des Weibes Kinder gebären, so wie es ihnen beliebt."
Die dritte Neuerscheinung führt uns ins arktische Amerika. Abermals ist es Detlef Brennecke, der als Herausgeber mit großer Sorgfalt anhand der Schriften John Franklins dessen dramatische Überlandexpedition zur Erforschung der Nordküste Kanadas von 1819-1822 neu vorlegt. Teils zu Fuß, teils im Kanu legten Franklin und seine Begleiter unter widrigsten Bedingungen den Weg zur Küste zurück. Begleitet von ständigen Proviantproblemen gelangte die Expedition an ihr Ziel und erkundete 320 Kilometer Küste.
Der Rückmarsch gestaltet sich dann außerordentlich hart und ging als Tragödie in die Entdeckungsgeschichte Amerikas ein. "Der 1. November zeigte sich schön und mild. Abends hatten wir den Kummer, unseren Gefährten Peltier nach einer anhaltenden Krankheit sterben zu sehen, und noch vor Anbruch des folgenden Tages folgte ihm seine Gefährte Samandre´ im Tode. So geschwächt waren wir alle, dass unsere vereinten Kräfte nicht hinreichten, sie zu begraben; oder sie auch nur bis an den Fluss zu tragen."
Nur durch einen Zufall wurden die letzten Überlebenden der Expedition von Indianern im tiefsten kanadischen Winter am 4. November 1821 gerettet. "Gelobt sei der Herr! Heute sind wir durch die Ankunft von Indianern gerettet worden. Die uns am Nachmittag mit Nahrungsmitteln versorgt haben.", vertraute John Franklin in einem seiner letzten Sätze seinem Reisetagebuch an.
Das lesenswerte Buch vermittelt eine Ahnung von menschlicher Grenzerfahrung und gehört in jede Sammlung von Reise- und Abenteuerliteratur.
Sowohl geografisch als auch historisch betrachtet erscheint im Erdmann Verlag die gegenwärtig umfassendste Sammlung alter Reiseberichte im deutschsprachigen Raum. Die sorgsame Ausstattung und das garantierte Lesevergnügen machen die Bücher der Edition Erdmann zu kleinen Kostbarkeiten, sie rechtfertigen ihren Kaufpreis.