Die Knilche
von der letzten Bank
"Der wilde Osten": Anders kann eine Anthologie kaum heissen, die Texte von jungen ostdeutschen Autoren versammelt. Darunter sind die üblichen Verdächtigen wie Jochen Schmidt, Terezia Mora und die unvermeidliche Antje R. Strubel, aber auch unbekanntere Namen. Die zwischen 1960 und 1979 Geborenen schreiben nicht über den Osten, wie er jetzt ist, sondern fast ausnahmslos über die Zeit vor der Wende. Das macht neugierig, verspricht es doch denen, die im Westen gross geworden sind, einen Blick in diese fremde Welt namens DDR; die Möglichkeit, etwas zu erfahren über die Nischen, in denen sich die Jugend der staatlichen Kontrolle entzog, über das wilde Leben jenseits des FDJ. Wenigstens hatte ich etwas Derartiges erwartet.
Statt dessen: Kindheitserinnerungen. Schulgeschichten. Junge Pioniere, Arbeitslager, böse Lehrer. Die Knilche von der letzten Bank in Ostversion. Ein Poesiealbum der lost Generation. Der Grund wird klar, wenn man einen Blick ins Autorenverzeichnis wirft: die Schreiber waren zum Teil erst zehn bis vierzehn Jahre alt, als der Staat sich in Luft auflöste, in dem zu leben ihnen vielleicht nicht einmal bewusst war.
Schön dargestellt wird das von Marko Martin in "Die Jahre davor – ein Versuch": In Opas Werkstatt läuft immer Bayern1 im Radio, der junge Erzähler stellt nur zufällig fest, dass es West- und Ost-Schlager gibt, wusste er doch nicht, dass die Welt geteilt ist. Marko Martin hat den Zusammenbruch der DDR als immerhin schon 19jähriger erlebt. Auch in den anderen Texten der nicht mehr ganz jungen Autoren wird spürbar, dass sie sich mit dem Thema auseinandersetzen, statt einfach ihre Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Das sind dann gute Geschichten, DDR hin oder her.
Volker H. Altwasser konfrontiert den jugendlichen Protagonisten mit seinem saufenden Vater, den er nur aufsucht, um Geld für eine Ferienreise mit den Kumpels aufzutreiben. Roswitha Haring (geb. 1960) schickt ein dickes Mädchen auf die Suche nach der Liebe und läßt sie schlechten Sex finden, Jörg Jacob (geb. 1964) beschreibt Bubenspiele in russischen Panzern, Tom Schulz (geb. 1970) bastelt eine Achterbahn aus dem verhassten realsozialistischen Jargon der "Konsummarkensammler und Mitschreibtäter".
Von Jugendkultur und Auflehnung findet sich nicht viel in diesen Texten. Die meisten Kinder folgen brav den von Erwachsenen vorgeschriebene Pfaden, gerade dass einmal einer sein FDJ-Halstuch in Brand steckt. Den "West-Leser" erschüttert, wie rigide über die Kinder und Jugendlichen bestimmt wird und wie hart selbst kleine Verstöße geahndet werden. Trotzdem klingt das alles ein bisschen, als tratschten Veteranen über den Krieg: "Weisst du noch, damals als wir die FDJ-Sekretärin überredet haben, uns in den Schuppen zu schleichen …" Die Erfahrungen ähneln sich, was ein einheitliches Bild einer DDR-Kindheit erzeugt, aber auf Dauer ein wenig langweilen kann.
Geschmacklos fand ich Terezia Moras Text "Lager Mira". Sie beschreibt einen Aufenthalt im Ferienlager, als befände sie sich im Konzentrationslager: "Einen Eisentrog mit sechs Kaltwasserhähnen gab es für beide Lager. Achtzig Mann auf unserer Seite und ebenso viele Polen, etwas über die Hälfte davon Frauen. ( …) Manche der Bäume waren Aufpasser, sie warteten, bis man sich hingehockt hatte und sagten dann: Losung? Dann musste man aufspringen und die Losung sagen, und sie lachten." Der Herausgeber hätte der Autorin einen Gefallen damit getan, diesen Text nicht zu veröffentlichen, denn er zeugt von erschreckender Instinktlosigkeit, da gibt’s auch keinen Ossibonus.
Insgesamt ein gut durchwachsenes Buch, größtenteils unterhaltsam, manchmal tiefsinnig, aber irgendwie auch schon wieder von vorgestern.