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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



April 2003
Marc Degens
für satt.org

Louis-Ferdinand Céline:
Reise ans Ende der Nacht

Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Rowohlt, Reinbek 2003

Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht.

736 S., 29,90 EUR
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Lucette Destouches; Véronique Robert:
Mein Leben mit Céline

Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg. Mit einem Nachwort von Franziska Meier.
Piper, München/Zürich 2003

Lucette Destouches; Véronique Robert: Mein Leben mit Céline

128 S., 14,90 EUR
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Louis-Ferdinand Céline:
Reise ans Ende der Nacht

Lucette Destouches
(mit Véronique Robert):
Mein Leben mit Céline


Zwei Bücher ragen wie Monolithe aus der Romanproduktion des letzten Jahrhunderts hervor: Zum einen "Ulysses" von James Joyce, zum anderen "Reise ans Ende der Nacht" von Louis-Ferdinand Céline. Beide Werke erweiterten beispiellos die Gestaltungsmöglichkeiten der Gattung und setzen bis heute Maßstäbe. Während Joyce die Technik des inneren Monologs vervollkommnete, seine Prosa zu vielsagenden und –stimmigen Versen verdichtete und insgesamt einen symbolhaften, motivgesättigten und nahezu perfekt durchkomponierten Roman schuf, um den "Welt-Alltag der Epoche" in Worte zu fassen, unternahm Céline den entgegengesetzten Versuch. Er dekonstruierte die Gattung, pfiff auf Narration und Linearität, verbannte jegliche literarische Künstlichkeit aus seinem Werk und verschnürte die knorrigen Handlungsbrocken mit seinem furienhaften, einzigartigen Stil. Es liegt nahe, die "Reise" als antibürgerlichen, antiintellektuellen Gegenentwurf zum "Ulysses" zu deuten.

Es war eine Sensation, als der Roman des achtunddreißigjährigen Arztes 1932 in Frankreich erschien. Nie zuvor in der Literatur ist eine Zivilisationskritik so schonungslos und selbstzerstörerisch und zugleich kunstvoll geäußert worden wie in diesem autobiographisch gefärbten Roman des pazifistisch und kommunistisch gesinnten Autors, der zuvor im Auftrag des Völkerbundes mit medizinischen Untersuchungen in Afrika und bei den Fordwerken in Amerika betraut war. In der "Reise" schildert Céline die pikareske Höllenfahrt Ferdinand Bardamus, eines illusionslosen Medizinstudenten, der sich nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges freiwillig als Soldat meldet, an die Front geschickt wird, von dort in ein Irrenhaus flüchtet, über Umwege nach Afrika gelangt, in einen Fieberwahn verfällt, versklavt und mit einer Galeere nach Amerika verschifft wird. Dort verdingt er sich als Fließbandarbeiter, lernt die Abgründe der "Neuen Welt" kennen, kehrt nach Frankreich zurück, beendet sein Medizinstudium und (über)lebt ab der zweiten Romanhälfte als Armenarzt in der Pariser Vorstadt.

Die "Reise" ist ein annähernd 650 Seiten langer Aufschrei gegen die Weltverhältnisse, gegen die verlogene Moral des Krieges, des Kolonialismus und des Kapitalismus, überhaupt gegen die bürgerliche Gesellschaft – und nichts und niemanden verschont Célines unbarmherziger Blick. Célines Ekel trifft Reiche und Arme, Gesunde und Kranke, Frauen und Männer, schwarz und weiß, alt und jung. Und ebenso gewaltig wie das Geschehen ist Célines Sprache, sein grollender, unvergleichlicher Stil. Der Autor durchwirkt seine Erzählprosa virtuos mit Ausdrücken der Umgangs- und Gossensprache, er zerfetzt Sätze, verknüpft die Worttrümmer mit drei Punkten, und persifliert auf ätzende Weise die literarische Hochsprache. Kaum ein Leser kann sich der Magie seiner Sprache entziehen, die einen regelrecht durch den Roman scheucht.

Die "Reise" ist das monströse Meisterwerk eines der elegantesten und sprachmächtigsten Erzähler des letzten Jahrhunderts und spülte die Gattung zu neuen Gestaden – Leo Trotzki sprach gar von einer "Revolution des Romans". Célines weitere Reise hingegen ist die beispiellose Geschichte eines persönlichen und künstlerischen Niedergangs.

Nach einem verstörenden Aufenthalt in der Sowjetunion bricht Céline 1936 mit seinen linken Idealen. Im gleichen Jahr liefert er in seinem zweiten Roman "Tod auf Kredit" die Vorgeschichte Ferdinand Bardamus, stärker noch als in der "Reise" vermengen sich Autobiographie und Fiktion. 1937 erscheint dann das erste von drei widerwärtigen antisemitischen Pamphleten, in denen Céline gegen das Judentum und den Kommunismus geifert. Später arbeitet er als Stabsarzt für die Vichy-Regierung, und berüchtigt wurden Ernst Jüngers Notate zu Céline aus dem Jahre 1941: "Er (Merline, d. i. Céline) sprach sein Befremden, sein Erstaunen darüber aus, daß wir Soldaten die Juden nicht erschießen, aufhängen, ausrotten – sein Erstaunen darüber, daß jemand, dem die Bajonette zur Verfügung stehn, nicht unbeschränkten Gebrauch von ihnen macht." Nach der Befreiung Frankreichs flieht der zum Tode verurteilte Autor 1944 mit Frau und Kater über Deutschland nach Dänemark, lebt dort in ärmlichen Verhältnissen, wird eingesperrt und kehrt erst 1951 - aufgrund einer Namensverwechslung amnestiert - nach Frankreich zurück. Abgeschieden und von vielen Seiten angefeindet lebt Céline bis zu seinem Tod 1961 als Armenarzt in der französischen Provinz und verarbeitet in seinen letzten Werken sein jämmerliches Schicksal. Diese Romane sind von Deutschlandhaß und Larmoyanz zersetzt, und Céline bagatellisiert darin seinen militanten Antisemitismus. Es sind weniger Romane als monologartige Abrechnungen, zu Stil geronnener Welthaß, unerträgliche Ergüsse aus lauter Ausrufezeichen.

Es wurde viel darüber spekuliert, wie sich der grandiose Schriftsteller, der gutaussehende Frauenheld und idealistische Arzt später in das judenhassende, starrsinnige und unansehnliche, von Selbstmitleid zerfressene Ungetüm verwandeln konnte. Ein nicht erhaltener Literaturpreis, ein einstiger jüdischer Vorgesetzter … in dem verquasselten Interviewband "Armer Geliebter" (1988) mit der Amerikanerin Elisabeth Craig, der ehemaligen Lebensgefährtin von Céline, der auch die "Reise" gewidmet ist, wird gar die These aufgestellt, daß Craigs Rückkehr in die USA und ihre Heirat mit einem Juden für Célines Antisemitismus verantwortlich seien. Doch all diese Erklärungsansätze sind unzureichend.

Auch in dem jüngst erschienenen schmalen Erinnerungsband "Mein Leben mit Céline" von Lucette Destouches, seiner Ehefrau und Wegbegleiterin ab 1936, findet sich keine Antwort. Aufschlußreich ist allerdings zu lesen, daß Madame Destouches (so Célines bürgerlicher Name), die einst lebenslustige Tänzerin, seine spätere Paranoia teilt und ebenfalls die Pamphlete verharmlost. Ja, sie erscheint in dem mit schrecklich kitschigen Kapiteleinleitungen aufgeblähten Buch zugleich als die uneingeschränkte Dienerin und das Opfer ihres Gatten. Allein das sehr kluge Nachwort von Franziska Meier macht den Band überhaupt erwähnenswert.

Eine letzte Ungeheuerlichkeit, die sich mit dem Namen Céline verknüpft, ist die Tatsache, daß der Roman fast siebzig Jahre lang nur in einer stark gekürzten und entstellten Fassung auf Deutsch vorlag. Erst heute, dank der sorgfältigen und einfallsreichen Neuübersetzung Hinrich Schmidt-Henkels, erhält der deutsche Leser Gelegenheit, einen Roman kennenzulernen, der zu den ganz wenigen Meisterwerken der Gattung zählt.