Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



April 2003
Tobias Lehmkuhl
für satt.org

Philippe Garnier:
Die Entdeckung der Unschärfe

Liebeskind, München 2002

Philippe Garnier: Die Entdeckung der Unschärfe

176 Seiten
17,50 EUR
   » amazon

Philippe Garnier:
Die Entdeckung der Unschärfe


Wenn man nicht achtsam ist, können schlimme Dinge passieren. Man greift nach der Butter, stößt dabei die Kaffeetasse um oder man überquert die Straße und gerät dabei unter die Straßenbahn. Es können aber auch schöne Dinge passieren, wenn man nicht aufpasst. Man dosiert die Gewürze anders als sonst und plötzlich schmeckt das Essen oder man sagt etwas, was man nicht sagen wollte, und gewinnt damit das Herz einer Frau. Oder es entstehen Essays wie die Philippe Garniers. Das allerdings wäre ein ganz außergewöhnlicher und überaus glücklicher Effekt von Unaufmerksamkeit. Der Versuch, einen Gegenstand zu erfassen, bedarf der Fähigkeit, ungewohnte oder gänzlich unübliche Gedanken zu denken. Da mag man sich manchmal noch so anstrengen, es will einfach nicht gelingen. Man erschöpft sich, die Konzentration erlahmt, man schweift ab, ist mit seinem Kopf plötzlich in völlig anderen Gefilden und, siehe da, auf einmal weiß man, wie der Gegenstand gedanklich am besten zu fassen ist. In der Literatur nennt man so etwas Inspiration, für die Philosophie gibt es keinen Begriff dafür. Trotzdem gibt es in der Philosophie eine Gattung, die sich eben nicht ausschließlich auf rational-deduktive Verfahren, sondern auch auf die Eingebung verlässt: den Essay.

"Die Lektüre der Welt als solche erfordert einen erheblichen Aufwand an Unaufmerksamkeit", schreibt Philippe Garnier in seinem Essay "Die Entdeckung der Unschärfe", und gibt damit den einzigen deutlichen Hinweis darauf, dass sein Essay über die Unaufmerksamkeit zugleich ein Essay über den Essay ist. Ihm geht es in 31 Kapiteln oder Mini-Essays nicht um Reflexion über das eigene Schreiben, sondern um die pragmatische Dimension der Unaufmerksamkeit. "Die großen Augenblicke der Unachtsamkeit – ein schönes Buch, das nie geschrieben werden wird", heißt es dort, sicherlich zu recht. Bedenkt man, wie viel Zeit wir damit verbringen, Zerstreuung zu suchen und rechnet man die Zeit dazu, während der uns Zerstreuung findet, zählt man also all die Tage, Wochen, Jahre zusammen, in denen wir passiv sind und die Dinge geschehen lassen – also durch unser Nichthandeln die Dinge sich selbst entscheiden lassen - dann könnte man meinen, dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Unachtsamkeit ist. Aber tatsächlich, dieses schöne Buch wird nie geschrieben werden, weil wir eben nicht von dem wissen können, was wir verursachen oder verhindern, indem wir unseren Gedanken nachhängen’. Dabei zeugt alles vom Menschen neu Erschaffene von der produktiven Kraft der Unaufmerksamkeit: "Die Fähigkeit, sich zu von dem zu lösen, was man gerade vor Augen hat, ist der Geburtsakt des Imaginären schlechthin." Natürlich hat alles auch seine schlechten Seiten. Garnier unternimmt einige Anstrengung, Unaufmerksamkeit, Zerstreutheit, Unachtsamkeit von ihrem schlechten Ruf zu befreien, singt aber nicht automatisch ihr Loblied, sondern entdeckt sie im wörtlichen Sinn. Er befreit sie von ihrem Ruf als lästige Nebensache, der ihr vor allem seit der Zeit der industriellen Revolution anhaftet. Die Arbeitswelt der Moderne erscheint in ihrem Licht als ein großer "Krieg gegen Absenz, Dösen und Schlaf". Zwar versucht man mit Kaffee, Tee und Traubenzucker einem Überhandnehmen solch "unproduktiver" Phasen Herr zu werden, gleichzeitig aber hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein kurzer Mittagsschlaf die Kräfte stärker bündelt als jedes legale Aufputschmittel. Gegen unsere Natur ist schwer anzukommen, unser Leben ist eher ein "Überleben in einer ständigen Zwischenwelt, dem Lidschlag, dem Wechsel von Wachen und Schlaf."

Aber die Bedeutung der Unaufmerksamkeit reicht weit über den Bürostuhl hinaus. Sie hat auch eine zutiefst politische Dimension – wie unser Verhalten der Werbung gegenüber es offenbart: "Nun ist uns die Taubheit für Botschaften zur zweiten Natur geworden. Außerdem verhilft uns die Werbung zu einem außergewöhnlichen Impfstoff gegen Glauben und Unterwerfung." Die vielgescholtene Individualitätssucht der westlichen Gesellschaften, auch ihre Säkularisierung, sie hängt zusammen mit dem Aufkommen des Informationszeitalters, das eine teilweise Abschottung des Einzelnen gegenüber seiner Umwelt überlebenswichtig machte. Und so haben wir vielleicht und hoffentlich nicht zu spät ein "Abschweifen" gelernt, "das uns von aller Fremdbestimmung und Verführung rettet." An anderer Stelle geht Garnier direkt auf die Flut von Reizen ein, die täglich und nächtlich über uns hereinbricht: "So wie es früher lebenswichtig sein konnte, die menschlichen Signale der Alten Welt auszumachen – ferner Rauch, zerbrochene Zweige, heiße Asche -, so ist es in Zukunft lebenswichtig, die unendliche Fülle zeitgenössischer Signale auch vernachlässigen zu können." Und beängstigend ist Garniers Gedanke – ohne dass er in den Chor der Zivilisationskritiker einstimmen würde – dass es gerade die äußeren, scheinbar unbedeutenden Zeichen des technischen Fortschritts sind, die uns das Leben zuweilen zur Hölle machen: "Was jedes Jahr Millionen von Touristen fliehen, beschränkt sich auf einige EDV-Piepser, einige Verkehrsampelanlagen, einige Hologramme auf Bildschirmen."

Schon ihres Namens wegen mussten die Konzentrationslager Garnier in den Blick geraten. In ihnen entdeckt er die verheerenden Folgen übersteigerter Aufmerksamkeit, die Unmenschlichkeit, die einer solchen Haltung innewohnt: "Nicht endende Formalität, Modalität der Vernichtung", so bringt er das bürokratische System der Vernichtung auf eine Formel.

Der Hang, unscharf zu sehen, die Dinge also nicht zu fokussieren und zu etwas anderem abzuschweifen, hat jedoch auch seine Schattenseiten. Denn das Träumerische bewegt selten zur Tat: "Alles bleibt in geordneten Bahnen, so lange man an etwas anderes denkt." Es sind die Aufmerksamen, die die Macht haben. Man tut dem Buch des 1964 geborenen Franzosen allerdings Unrecht, wenn man sich darauf beschränkt, seine originellen Gedanken zu rühmen. Dass "Die Entdeckung der Unschärfe" einen ganz großen Essayisten entdecken lässt, liegt denn auch an seinem glänzenden Stil, der auch für den deutschen Leser durch die vorzügliche Übersetzung Stefan Listners, die sich keine grammatische Nachlässigkeit und kein unstimmiges Bild erlaubt - die scharf ist – ein Genuss ist.