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Juni 2003
Ron Winkler
für satt.org

Jürgen Becker:
Foxtrott im Erfurter Stadion

Gedichte
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1993

86 S., 9,95 EUR
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Aus Brachen Sprachen bilden

Wiedergelesen:
Jürgen Beckers Gedichtband
“Foxtrott im Erfurter Stadion“



Jürgen Beckers Texte in diesem Gedichtband faszinieren durch ihren ausschwärmenden Charakter. Sie holen verschiedene Ausmaße von Leben und Historie in die Zeilen. Diese Lyrik ist wie ein Wehen mit unterschiedlichen Windstärken. Fetzenweise zieht Ungleichzeitiges vorbei. Simple Annoncen aus dem Alltag oder historische Bezüge verschiedener Bewältigungsstufen. Der zum Ich gehörende Augenblick und die traumatische Asche der Geschichte. Erinnerungen, die Zombies sind im Bewusstsein. Einmal steht da: „ein gefährdeter Strand ist nicht in der Nähe“. Ein andermal liest man von „Flottillen, die langsam / den Fuß der Küsten erreichen“.

Bei Jürgen Becker gibt es, mit Günter Kunert gesagt, eine „unaufhebbare Permanenz“ der Geschichte. Die Geschichte sitzt mit am Tisch „zum Frühstück und Zeitunglesen“, schreibt der Autor, und er weiß, dass Untätigkeit ihr Charakter nicht ist. So wenig, wie das Leben moderat ist, fügen sich bei Jürgen Becker die Verse. Hier werden Stimmen angezettelt, die nicht zwangsläufig zum Aussprechen kommen. „Schlittschuh-Gespräche“ gibt es und Krähenzüge, die die Stimme des Dichters verfolgt, bis sie am Horizont in anderen Text übergehen. „Kirschzweig mit Nachrichten“ heißt passender Weise ein Gedicht – noch das Unscheinbarste, scheint damit gesagt, emittiert Informationen, man muss nur genau hinhören. Und der Dichter hat eben die besondere Fähigkeit, aus Brachen Sprachen zu extrahieren.

Schon im Wortmaterial liegen Bohrkerne, „Gedächtnisspuren“ in die unterschiedlichen Sedimente der Zeit. „Spechte im Baum“, „Räumfahrzeuge“ oder „Landkarten“ sind Klammern und Stellwerke für die Wahrnehmung. An ihnen klimmen sich die Erinnerungen ins Gedicht. Erinnerungen, die Becker kreuz und quer führt. Es gibt ein Einwirken und es gibt Auskünfte aus dem Inneren; eigene und fremde‘ Zeit überlagern sich. Das am eigenen Leib Erfahrene geht synthetische Verbindungen ein mit dem, was von Ferne ins Bewusstsein vermittelt wird. Wie auch die Wahrnehmung fragmentarisch und schubweise operiert, ist die Poesie ein großer Staubsauger mit verschiedenen Filtern.

Beckers Gedichte sind Kalenderblätter des Gestern und zugleich akute Proben der mitlaufenden Zeit. Schließlich bildet Gegenwart immer eine gemeinsame Zeit mit dem Vergangenen. Daraus entsteht in dieser Lyrik ein „Netz / der Gleichzeitigkeit“, in dem alles auch an seine Umgebung oder die Ursprünge erinnert. Immer ist Nachricht (der Begriff findet sich ebenso wie der des Telefons fast leitmotivisch in diesem Band), immer gibt es Zulieferungen von verschiedenen Fronten. Seien es Berichte aus den mühseligen Ebenen der Realität, seien es die Höhenzüge, „die Geräusche des Phantasierens“.

Ausflüchte sind – eingeschränkt – möglich vor dem stetigen „Zuwachs / an Früher“: „alles / hängt ab von den täglichen Kräften / der Simulation.“
Alles ist somit aber auch zu verdecken, zu verdrängen, zu verfälschen. Hier ist Becker, der im besprochenen Buch in besonderem Maß deutsche Geschichte abtastet und dezent aufruft, beim schwelenden Problem ihrer Gewichtung für die Gegenwart. Becker schreibt: „vermutlich sind die Vorgärten / vermint“ – wissend, dass die Vermutung Zustände betrifft, denen gern ausgewichen wird. Wo Minen sind, sind Wunden. Und wo viele Wunden sind, ist Abkehr: „Zu lang die Liste, die Zuhörer / schlafen ein“.

Doch Becker läßt die Stoßtrupps von Schulmeisterei und Denunziation außen vor. Er bringt die Geschichte zum Platzen und Aufkratern, aber dies eher, um den eigenen Standort zu bestimmen. Diese Poesie ist so wenig Frontgebiet wie sie nur ein Hauch Foxtrott ist. Gleichwohl rumort es am Grund der Texte unüberhörbar.