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Juni 2003
Tobias Lehmkuhl
für satt.org

Marcel Beyer:
Nonfiction.

Dumont Verlag, Köln 2003

Marcel Beyer: Nonfiction

322 S., 22,90 EUR
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Marcel Beyer:
Nonfiction



"Nonfiction" heißt das neue Buch Marcel Beyers, und erwartungsgemäß ist es mit nicht-fiktionalen Texten gefüllt. Es enthält also keine erdachten Geschichten und nichts Gedichtetes, sondern Erinnerungstexte und literarische Essays. Allerdings zeigt diese Erläuterung schon, dass es ganz so einfach nicht ist. So anglophil Beyer auch sein mag (Gedichte Seamus Heaneys und T.S. Eliots sind in "Nonfiction" Gegenstand ausführlicher Betrachtungen), einen englischen Begriff benutzt er nicht leichtfertig, schon gar nicht als Titel. Indem er das Fremdwort verwendet, lässt Beyer ein leichtes Aber mitschwingen: Aber sicher kann man nicht sein, ob das, was man erwartet, auch dem entspricht, was man bekommt.

Bekannt wurde Marcel Beyer 1995 durch seinen Roman "Flughunde", einer spannenden und erschreckenden Audio-Studie des Dritten Reichs, und in den folgenden Jahren löste er, nicht zuletzt bei diesem Rezensenten, durch seine Gedichtbände "Falsches Futter" (1997) und "Erdkunde" (2002) Begeisterung aus. Der vorliegende Band zeigt ihn nun vor allem als hingebungsvollen Lyrikleser. Die zentralen Texte handeln jedoch nicht von einzelnen Gedichten, sondern von den Bedingungen und Möglichkeiten lyrischen Sprechens allgemein. Dabei dienen Beyer seine äußerst scharfsinnigen Einzelinterpretationen, etwa zu Paul Celans berühmtem Gedicht "DU LIEGST", zur Veranschaulichung seiner eigenen ästhetischen Position – die zugleich eine politische ist.

Das mag überraschen angesichts der nun seit 20 Jahren andauernden Politikverdrossenheit der deutschen Literatur. Aber hier kommt wieder der Titel ins Spiel: Nonfiction’ bezeichnet nicht nur die Gattung der Texte in diesem Band, so genannte Sachtexte, sondern erscheint auch als grundsätzliches Statement zur Frage nach der Fiktionalität literarischer Texte. Denn in einer Hinsicht ist für Beyer jedes Gedicht, jeder Roman nicht-fiktional: was seine Sprache betrifft. Zwar ist für Beyer ein heuristischer Sprachgebrauch Grundvoraussetzung von Literarizität, das Gedicht oder der Roman aber gilt ihm immer als etwas, das im Dialog mit einem Leser steht. "Ein Gedicht kann ein Monolog sein; aber es ist ein Monolog, der laut gesprochen wird" hat der Dichter Michael Hamburger einmal geschrieben, und auch Marcel Beyer spricht vom Gedicht, das "weder Monolog noch Ansprache, sondern in einem Gesprächszusammenhang begriffen" ist.

Und wenn "Herz" mit einmal nicht mehr auf "Erz" gereimt wird, dann war das vor 50 Jahren durchaus als politische Entscheidung zu verstehen. Denn häufig geht es gar nicht darum, was gesagt wird, sondern darum, was nicht gesagt wird. Wer bedenkenlos bestehende Formen des Sprechens aufgreift, dem bescheinigt Beyer ein "pornographisches Verhältnis zu Sprache", er sieht darin "die eigentümliche Fähigkeit, die politischen und die ästhetischen Verhältnisse auseinanderzudividieren".

So handelt "Nonfiction" also tatsächlich nicht von Fiktionen, sondern von Sprachen, die sich in ein bestimmtes Verhältnis zur Gegenwart setzen, zur so genannten außerliterarischen Wirklichkeit’, mit der die Literatur aber immer doch das Sprechen teilt. Beyer ist sich dieser Problematik auch fürs eigene Schreiben bewusst. Ob er über den Holocaust schreibt, über Musik in Nordafrika oder ein sowjetisches Hotelzimmer in Tallin: Er geht tastend vor, nimmt nichts für gesichert. Seine fehlende Leichtfertigkeit ist keine Bedenkenträgerei, sondern, ganz im Gegenteil, ein beständiges Nachdenken, miteinander Verknüpfen, ein Betrachten und Behorchen der Dinge, das in der Lage ist, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Hier zeigt sich der Romancier und Lyriker als geborener Essayist.