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Juni 2003
Tobias Lehmkuhl
für satt.org

Michael Braun:
Der zertrümmerte Orpheus

Über Dichtung
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2002

Michael Braun: Der zertrümmerte Orpheus

64 S., 13,50 EUR
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Michael Braun:
Der zertrümmerte Orpheus



Der Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott vertrat in einem Essay unlängst die These, Kunst und Religion besäßen in unserer Gesellschaft keine integrative Funktion mehr. Die Frage nach der Identität des "neuen Menschen" habe sich aus der Kontinuität metaphysischer Topik gelöst, die Suche nach Transzendenz sei nur mehr ein bloßer Freizeitspaß. Damit hätten Kunst und Religion ihre Autorität eingebüßt. Die Deutungsmacht über gesellschaftliche Prozesse liege nun bei den Wissenschaften, allenfalls noch bei den Philosophen. Der Schriftsteller hat nichts mehr zu sagen, geschweige denn der Pfarrer, so Mattenklotts Befund.

In seinem zehn kurze Aufsätze umfassenden Buch "Der zertrümmerte Orpheus" geht der Literaturkritiker Michael Braun der Frage nach, ob das Band zwischen Kunst und Religion mit Nietzsches Inszenierung des Nihilismus tatsächlich durchtrennt worden ist, oder ob die "Auseinandersetzung zwischen Poesie und christlicher Religion immer wieder ausgetragen" wird.

Er stellt fest, dass man sich in der Literatur zuweilen auch heute noch im "Genesis-Gelände" befindet und beim Lesen bestimmter Texte mitunter so etwas wie "lyrische Mimesis der Schöpfung" erlebt, etwa bei Dichtern wie Inger Christensen, Michael Donhauser oder Oswald Egger, deren kreative Methode sich als ein Aufrufen, Benennen und Evozieren von "Natur-Stoff" charakterisieren lässt. Ein anderes Mittel, das religiöse Potential von Dichtung zu aktivieren, enthüllt "eine kleine Visite bei alten und neuen Dichterkönigen", wie sie der titelgebende Aufsatz des Bandes abstattet:

"Als Lichtgestalt und charismatisches Genie hat der Dichterkönig abgedankt [ …,] der einsame und entrückte Sänger und das Dichtergenie – sie sind nur noch als historisches Zitat zu haben, sie besitzen kein zeitgenössisches Pendant mehr", konstatiert Michael Braun. 2000 Jahre nach der Zeitenwende ähnelt der Dichter dem zertrümmerten Orpheus, dessen Kopf, vom Körper abgetrennt, den Fluss Hebros hinuntertreibt. Wie bei Ovid hört aber auch der Götterliebling unserer Tage nicht zu singen auf. Auch wenn die Kirchen heute leer sind, kehren unsere Dichter "noch einmal an diesen Ort der Leere zurück, um die Trümmer der Heilsversprechen zu besichtigen". Thomas Kling, Durs Grünbein und Raoul Schrott benutzen die Mythen der Antike als Baedecker auf dieser Besichtigungstour. Mit knappen, äußerst präzisen und eleganten Strichen zeichnet Braun die Wege nach, die diese Dichter im Verlauf der 90er Jahre eingeschlagen haben.

Zwar sprechen Gedichte "auch dort noch von Religion oder mystischen Erfahrungen, wo sich die Welt ans Ufer unwiderruflicher Säkularisierung gerettet hat". Grünbein und Schrott aber tun dies nur mehr im "Habitus lebensmüder Gelassenheit" und mit der "Attitüde des allgegenwärtigen Zeremonienmeisters". Einzig in den von "sprach- und kulturarchäologischen Erkenntnisinteressen" getriebenen Gedichten Thomas Klings entdeckt Braun die Spannung der Feder, die in die Zukunft schnellt.

Da die Theologie immer wieder daran scheitert, positiven Sinn zu stiften, suchen Autoren wie Grünbein oder W.G. Sebald ihr Heil in einer "negativen Metaphysik". In diesem Sinne liest Braun Dieter Wellershoffs Prosa als "tragische Geschichte der Weltverfehlung", Günter Steffens Romane als "Erfahrung der Lebensauslöschung" und Ernst Jandls Gedicht "vermeide dein leben" als "Wunsch nach Selbstauslöschung". Die einstige intellektuelle Beweglichkeit des Transit-Künstlers der Nach-Wendezeit, seine inspirierende Standpunktlosigkeit, ist existentieller Verzweiflung gewichen, und die existentiell Verzweifelten, sie sterben langsam aus.

In den beiden kurzen Polemiken, die den "Zertrümmerten Orpheus" beschließen, zeigt sich, dass der nächste "Denkmalsturz und die allerneueste Orpheus-Figuration" wohl noch einige Zeit auf sich werden warten lassen. Denn die jüngsten Jungschriftsteller begnügen sich mit dem, was vom Transit-Künstler übriggeblieben ist: Tickets für Lesereisen durch die ganze Welt, spendiert von einem hochsubventionierten Literaturbetrieb, in dem "ein schmales Bändchen in der Edition Suhrkamp oder ein durchwachsenes »Debüt« bei Kiepenheuer & Witsch" eine Senator Card der Lufthansa verheißt. Also setzt man sich ins Flugzeug und lässt Champagner kommen. Hedonistische Hingabe an das Ich aber - wie z.B. bei Alexa Hennig von Lange - macht keine Literatur, geschweige denn Religion: Solcherart ließe sich Brauns Polemik zuspitzen. Dabei ist der Kritiker keineswegs ein orthodoxer Sinnlichkeitsverächter. Aus all seinen Aufsätzen spricht die Lust am Text; und wenn er einen Stapel geleimter oder gehefteter Blätter zurückweist, dann mit der Empörung des enttäuschten Liebhabers.

Im Vordergrund der Aufsatzsammlung aber stehen selbstverständlich jene Werke, die dauerhaften Gewinn versprechen. Der rote Faden des Buches, die philosophische Sinnfrage, wie sie die Literatur stellt, hebt nicht nur einen von der Kritik in den letzten Jahren wenig beleuchteten Aspekt hervor, sondern verleiht der ästhetischen Wertung auch eine ethische Grundierung.

Wovon Michael Braun nicht handelt: Mit dem Bedeutungsverlust des Dichters, der Zerlegung "seiner auratischen Gestalt in ihre Einzelteile" geht zwangsläufig ein Bedeutungsverlust der Literaturkritik einher. Denn so, wie sich die mystische Kraft der Dichtung einst aus dem religiösen Ritus speiste, so hat sich die Hermeneutik und mit ihr die Literaturkritik an der Theologie geformt. Und wenn es keine Gläubigen mehr gibt, bedarf es auch keiner Deuter der Schrift mehr.

Leistet der Kritiker also Trauerarbeit in eigener Sache? Nur bedingt. Zwar werden "selbst das Staunen und die Verwunderung, die den zweckfreien Blick auf die Dinge erst ermöglichen, als Erfahrungsqualitäten mittlerweile knapp." Doch nach wie vor gibt es Menschen, die mit Staunen und Verwunderung der Ökumene von Poesie und Religion beiwohnen, die, um das dem Buch vorangestellte Motto Alfred Polgars umzukehren, auch dann noch lesen werden, wenn die anderen schon nicht mehr schreiben.