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Juni 2003
Tobias Lehmkuhl
für satt.org

Iris Hanika:
Das Loch im Brot

Chronik
Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2003

120 S., 8,50 EUR
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Iris Hanika:
Das Loch im Brot



Bevor man dazu überging, den Kulturteil einer Zeitung "Feuilleton" zu nennen, war er schlicht das, was "Unterm Strich" stand. So genannt und solcherart abgetrennt von den bedeutenden tagesaktuellen Ereignissen fanden sich im unteren Viertel einer Zeitungsseite Kritiken, Kommentare, Glossen, Gedichte und allerlei ephemere Textsorten, die nicht "Nachricht" oder "Meldung" waren. "Unterm Strich" wurde nicht die Summe des Tages gezogen. Hier fand solches einen Platz, was darüber hinaus ging, gleichwohl aber als nicht drängend, weniger wichtig oder abseitig eingestuft wurde. Nachdem Zeitungen immer beliebter wurden und ihren Umfang steigerten, bildete sich Ende des 19. Jahrhunderts eine eigenständige Feuilletonkultur heraus. Journalisten wie Joseph Roth oder Siegfried Kracauer, Karl Kraus oder Egon Erwin Kisch verhalfen den Gattungen des Tagesjournalismus zu Ansehen. Alltagsbeobachtungen, die mit Reflexion verbunden waren oder zur Reflexion anregten, Anekdoten und humoristische Aphorismen wurden salonfähig. Noch heute finden sich in unüberschaubarer und undefinierbarer Vielfalt solcherlei Texte in allen größeren Zeitungen. Die feuilletonistischen Texte der in dieser Hinsicht erfolgreichsten Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich zu Büchern zusammengestellt erstehen, ob Franz Bleis Portraits, Alfred Kerrs Kritiken oder Kurt Tucholskys Prosastücke.

Berühmt wurden Roland Barthes’ in den 50er Jahren entstandene "Mythen des Alltags", an die er 1978 mit einer Serie im Nouvel Observateur wieder anknüpfte und die nun unter dem Titel "Chronik" auch auf Deutsch erschienen ist. Bei letzteren handelt es sich um tagebuchähnliche Notate, die Beobachtungen des Alltags reflektieren. Erschienen ist daneben ein Buch, das ebenfalls "Chronik" benannt ist, wenn auch nur im Untertitel, "Das Loch im Brot" von Iris Hanika. Ihre "Chronik" – unter welchem Titel Teile ihres Buches in der Zeitschrift "Merkur" abgedruckt wurden – erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, ein Tagebuch zu sein. Allerdings sind die Einträge nicht chronologisch geordnet. Zudem werden sie von längeren erzählerischen Passagen unterbrochen, die nicht den Charakter reflexartiger Reaktion auf tägliche Ereignisse tragen. Schauplatz ist vorwiegend der Wohnort Hanikas, Berlin, von wo aus sie auch regelmäßig für die Berliner Seiten der FAZ berichtete, solange es diese gab. Es geht in Ihrem Eintragungen, die sich alle als "Feuilletons" vorstellen lassen, um Sex, von dem man immer zu wenig hat - "intellektuell wird man natürlich bloß, weil das Vögeln nie reicht" -, um der Deutschen Verhältnis zu Aldi, um Flugzeuge, diese seltsamen Blechbüchsen, durch die Tag und Nacht ein Teil der Erdbevölkerung in den Orbit ausgelagert wird, um die Qualen des Rauchens und der Rauchentwöhnung und die noch größeren Qualen der Liebe, um Männer und Frauen also und ihre weitgehende Inkompatibilität. Alles banal und schon zigmal gehört, könnte man meinen. Dass Israelis und Palästinenser nicht gut miteinander können, möchte man ja auch nicht mehr lesen. Hanika allerdings hat die Form und die Sprache auf ihrer Seite. Sie muss keine Positionen gegeneinander abwägen und nicht sachlich Meldung an Meldung reihen. Ihr Stil ist elegant, unaufdringlich, einfühlsam, die Länge ihrer Stücke immer gut abgewogen, dabei nie zu sehr auf Pointe geschrieben. Die Pointe liegt meist in den Geschichten selbst. So lautet etwa der Eintrag vom 27.6.1996: "Vor dem Bordell Sweetheart in der Naumannstraße parkt in der zweiten Reihe ein BMW mit laufender Warnblinkanlage."

Hanika spürt dem Zusammenhang von Übergebildetheit und Zahnfäule nach und entwickelt so schöne Begriffe wie "Gebrauchtbuchläden" für Antiquariate der unteren Kategorie. Was dem Blick im Alltag häufig entgeht, kleine Ereignisse die irgendwie schief zur Wirklichkeit stehen, hält sie in ihrer "Chronik" fest. Sie motzt nichts auf und bügelt nichts glatt, sondern bewahrt die Fragilität des alltäglichen Daseins. "Das Loch im Brot": Eine Schule der Aufmerksamkeit.