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Juni 2003
Tobias Lehmkuhl
für satt.org

Verena Lueken:
New York

Reportage aus einer alten Stadt
DuMont Verlag, Köln 2002

Verena Lueken: New York. Reportage aus einer alten Stadt
178 S., 19,90 EUR
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Verena Lueken: New York
Reportage aus einer alten Stadt



"Die Geschichte der Entwicklung des Times Square ist vor allem eine Geschichte über die Grenzen öffentlicher Stadtplanung und die Macht des Marktgeschehens", schreibt Verena Lueken in einem der 14 Texte, die ihr "New York"-Buch versammelt. Eben diese Geschichte erzählt ihre "Reportage aus einer alten Stadt", wie der Band im Untertitel heißt. Der Times Square ist ihr dabei nur ein Beispiel, das veranschaulicht, wie der Big Apple strukturiert ist, welche Faktoren sein Wachstum beeinflusst haben und wo seine Kerne liegen.

Dabei lernt der Leser New York auf eine ganz ungewöhnliche Weise kennen, und er lernt es auf 178 Seiten besser kennen, als durch alle Reiseführer und Woody Allen-Filme zusammen genommen. Lueken hat sich tief in die Geschichte der Stadt eingearbeitet und zeichnet ihre Genese von einer Ansammlung kleiner Siedlungen, die auch Piraten Unterschlupf bot, zum größten Handelszentrum der Welt nach. Im Vordergrund stehen bei ihr nicht die schillernden Figuren, die Künstler und Killer, sondern die unermüdlichen Stadtplaner, die Bürgermeister und Bürokraten der "Port Authority", die das Erscheinungsbild New Yorks am stärksten prägten. Dazu gehören selbstverständlich auch Finanziers wie Rockefeller und die Mafia, zu deren Geschäftsbereichen eben auch so etwas unscheinbares aber entscheidendes wie die Organisation des Mülls gehörte.

New York, die Stadt, "die das Neue im Namen trägt", war durch ihre Lage, durch ihre schiere Größe und den nie abreißenden Strom der Einwanderer zur Vielfalt und zum Neuen geradezu verurteilt. Der enge Raum und die schlechten Verkehrswege ins übrige Amerika zwangen zu Erfindungsreichtum, zum Bau von Tunneln und Brücken und zu immer höheren Gebäuden. Lueken zitiert aus einem Roman Bernand Malamuds: "wenn man ein Haus verlässt, wird es hinter einem sofort abgerissen". Das Alte und das Neue, Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Vergessen. Indem Lueken den Umgang der New Yorker mit ihrer Geschichte beobachtet, stößt sie auf das Irritierende und Besondere dieser Stadt: "New York duldet keine Ruinen". Die Diva musste immer das Beste und Feinste haben. Glänzen sollte alles und mit dem Bau des World Trade Centers der Stadt der Wunder die Krone aufgesetzt werden. Da aber hatte New York den Zenit bereits überschritten. Nach einhelliger Meinung eine städtebauliche Katastrophe, die die Nervenbahnen der Stadt durchtrennte, zeigten die Zwillingstürme in der Folge einmal mehr die "Macht des Transports" und die Ohnmacht der Stadt, es allen recht zu machen. Die Kriminalitätsrate stieg rapide und durch das Klima angegriffen verfielen die älteren Gebäude fast ebenso schnell. Plötzlich wurde eine Vergänglichkeit sichtbar, die man 200 Jahre lang zu verstecken gesucht hatte.

Mit Giuliani änderte sich wieder einiges. Mit den Anschlägen vom 11. September ließ es sich dann aber nicht mehr leugnen: "New York war plötzlich eine alte Stadt." Die höchsten Gebäude der Stadt waren nun bald hundert Jahre alt, und der Schrecken größer als jede Vergewaltigung im Central Park es sein konnte: New York "wird in Zukunft eine Stadt mit Gedächtnis sein."

Wie nähert man sich einem solch schrecklichen Ereignis? Wie kann man die Stimmung in dieser verwundeten Stadt erklären, ohne sich an die Bilder des Einsturzes zu verlieren? Lueken gelingt dieses Kunststück, indem sie sich ganz auf den Stadtraum und sein Alphabet, seine Straßen, Wege und Kreuzungen beschränkt, darauf, und wie Transport und Verkehr in ihm geregelt sind. Kurz gesagt: Sie betrachtet den Körper der Stadt, seine Anatomie, sein Skelett. In dem Röhrensalat, der sich im Krater von ground zero offenbart, erblickt sie, und mit ihr der Leser, was in dieser Stadt alles gekappt und zerrissen wurde.