Die erschütternde Mutlosigkeit der reizenden A.S.
Melanie G. Mazzuccos Roman um Annemarie Schwarzenbach
"Sie rannte wie ein Junge, der endlich, endlich aus der Schule darf. Ihr Haar, das ihr jetzt in die Stirn wehte, war geschnitten wie das Haar eines Jungen. Man hätte sie, aus einiger Entfernung, für einen Gymnasiasten halten können." Immer wieder beschrieb Klaus Mann in seinen Romanen und Erzählungen die Freundin Miro, Annemarie Schwarzenbach. Wie hier in seinem ersten Exilroman "Flucht in den Norden" wird Annemarie als androgynes, geheimnisvolles Wesen geschildert. Die junge Schweizerin, Fabrikantentochter und Anwärterin auf ein Millionenerbe, war Anfang der dreißiger Jahre in Berlin auf Erika Mann und – unvermeidlicherweise, auf ihren Bruder gestoßen. Die große, ihr Leben lang währende Liebe zu Erika verband die junge Schriftstellerin und Reporterin auch untrennbar mit dem Bruder – zeitweise dachte man sogar an eine Verbindung, eine Hochzeit zwischen den beiden. 1908 geboren, wird das "Schweizerkind" nach mehreren langjährigen Reisen und Auslandsaufenthalten, einer Ehe mit einem französischen Diplomaten, missglückten Selbstmordversuchen und Odysseen durch Entzugskliniken und Nervenheilanstalten 1942 an den Folgen eines Fahrradsturzes in ihrer Heimat sterben. Die ungewöhnliche Biografie der Annemarie Schwarzenbach, ihre homoerotische Prägung und ihre hinterlassenen Romane, Erzählungen und Reportagen schaffen bei ihrer Wiederentdeckung in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Kultfigur Annemarie Schwarzenbach.
"Annemarie wird 1987 wiederentdeckt. Es ist so etwas wie eine Auferstehung." Melania G. Mazzucco, eine italienische Dramaturgin, ist so beeindruckt von Annemarie Schwarzenbach, dass sie deren Leben auf 538 Seiten nachbildet. Sie nennt ihre Biografie, die auf gründlicher Recherche beruht und viele der Leerstellen dichterisch ausfüllt, denn auch – "einen Roman um Annemarie Schwarzenbach". Noch heute ist A.S. das schwarze Schaf der Familie. Damals, kurz nach ihrem frühen Tod, verbrannte die übermächtige Mutter und Verwalterin des Erbes alle Briefe ihrer Tochter. Alle, die sie von Erika und Klaus Mann, ihrem Mann Claude Clarac, der Schriftstellerin Carson McCullers und anderen Zeitgenossen erhalten hatte. Ihr Werk wird negiert, Auskünfte verweigert. Doch das Verschweigen kann die Auferstehung nicht verhindern, nach einem längeren Artikel in der Neuen Züricher Zeitung werden im Laufe eines Jahrzehnts Schwarzenbachs Bücher in Taschenbuchausgaben neu verlegt. In Sils, wo Annemarie ein Haus gemietet hatte und viele Wochen des Jahres lebte, treffen sich heute Fans zu Diskussionsrunden, um sich mit ihren Texten zu beschäftigen und sie zu interpretieren. "In Sils Baselgia kann es passieren, dass man Freundschaften schließt, nur weil man ihren Büchern herumläuft …" Melanie G. Mazzucco gelang es, einen Dokumentarfilm aufzuspüren, der bei einer Persienreise mit Ella Maillart entstand und für wenige Momente die Schwarzenbach selbst zeigt. Sie kramte in den Fotokisten im familieneigenen Archiv und wühlte sich durch Briefe Annemaries, die sie an ihre Freunde und geliebten Frauen schrieb. Ein posthumes Memorandum entstand daraus, ein prächtiges, farbenfrohes Bild der zwanziger Jahre, ein düsteres, von Leid und Exil geprägtes der dreißiger Jahre. Vor allem aber entsteht ein Bild dieser Frau, die sich selbst als eine fremde, verwirrte, visionäre und erschreckend einsame Figur wahrnahm.
Der deliziöse Schweizer Page, wie Klaus Mann sie einmal nannte, "war ein andersartiges und bedrohtes Geschöpf, jemand, der sich nicht hat verständlich machen können, den man hätte retten wollen." Mazzucco beschreibt das Leben ihrer Protagonistin in zeitlichen Verschränkungen, beginnend am letzten Tag ihres bewussten Lebens, über Streiflichter der Familienidylle auf Bocken bei Zürich zum wilden Nachtleben in Berlin, den geplanten und ausgeführten Reisen, dem Beginn eines verheißungsvollen Lebens. "Glücklich sind diejenigen, denen der Mythos des Vergnügens immer fremd geblieben ist, für die die Freuden einer Großstadt keine Bedeutung haben und Kabaretts und Nachtlokale, welcher erotischen Richtung auch immer, nur einen Verlust an Zeit und Geld darstellen …"
Durch die Vertiefung in ihre Figur gerät die Autorin sprachlich sehr nahe an die Wahrnehmung durch Annemaries Umgebung, der Leser ist gefangen und erstaunt über die einfühlsamen Interpretationen. "Klaus kannte Annemarie kaum. Obwohl er sie in Berlin manchmal getroffen hatte, wenn Erika nicht da war, war sie für ihn zu namenlos, um wirklich seine Freundin zu sein. Und wenn sie kein Jemand war, so war es nicht, weil sie keine berühmte Schriftstellerin und nicht die Tochter eines berühmten Schriftstellers war, wie der größte Teil seiner Freunde, und auch nicht, weil sie zu jung war – sie war nur zwei Jahre jünger als er und drei Jahre jünger als Erika. Es lag vielmehr an der Unklarheit ihrer Identität, an der Unentschiedenheit, wer sie sein würde oder schon war: ein ausgemusterter Matrose, ein Fräulein der hohen Gesellschaft, ein Don Juan, eine Schriftstellerin, eine Ehefrau? Klaus begriff nicht, was sie vom Leben wollte – außer Erika." Das ist eine Improvisation, die Applaus fordert. Die dünne Spur der biografischen und literaturwissenschaftlichen Fakten verblasst gänzlich ob dieser eigenwilligen und doch so logischen Schlussfolgerungen im Stile des ältesten Sohnes von Thomas Mann.
"Die Droge war Magie, die wie durch einen Zauber die unerträgliche Schwere der Melancholie auflöste und Leichtigkeit und Flüchtigkeit schenkte. Dynamik, körperliche Euphorie, Ideen, Flutwellen und Verirrung – Träume. Es war ein würdiges erstes Mal. Sie machte es auch ein zweites Mal, und dann noch einmal, bis sie Expertin wurde." Wer sich mit Klaus Mann beschäftigt, wird diese Passagen wiedererkennen. In seinen Tagebüchern finden sich ähnliche Eindrücke, die Drogen begleiten denn auch Klaus und Annemarie gemeinsam, sie werden nie wirklich von ihnen loskommen.
Annemarie Schwarzenbachs Leben ist geprägt von der Flucht. Sie unternimmt Reisen, um ihrer Mutter zu entfliehen, heiratet den in Persien stationierten homosexuellen Diplomaten Clarac, um der unerfüllten Liebe zu Erika Mann zu entfliehen, zerstört Beziehungen und enttäuscht Hoffnungen. Immer auf dem Sprung, bleibt sie stets einsam. "Sie hat Babylon besucht, den Nabel der Welt, und Hilla an den paradiesischen Ufern des Euphrat. Sie hat die Wüste durchquert, in der die alten Kanäle ausgetrocknet sind, die Flüsse ihren Lauf vergessen haben und die alten Städte im Sand versunken sind … Sie hat die schneebedeckten Berge von Kurdistan überquert und sich einem Zug Lastwagen angeschlossen, die ungeduldig darauf warteten, den Pass sofort nach der Schneeschmelze zu erreichen …" Die Ehe geht nicht gut, Annemarie verlässt Clarac und seine Villa, flieht aus Persien, den Geschwistern Mann hinterher, die Europa in Richtung Amerika verlassen haben. Auch dort wird sie nicht glücklich, der Umgang mit ihr immer anstrengender. Die Drogensucht verschiebt ihre Wahrnehmung, Annemarie klammert sich an die Geschwister, schreibt Droh- und Bettelbriefe, bricht bei gemeinsamen Abendessen ohnmächtig zusammen, erbricht sich auf Restauranttische, wirft komplette Wohnungseinrichtungen im Rausch aus New Yorker Hochhausfenstern. Sie landet im Polizeigewahrsam, in Nervenkliniken. Bricht wieder aus, flieht von Freundinnen in Hotels, sucht die Familie Mann in Kalifornien heim – sie ist schlichtweg unerträglich. Selbst dem hartgesottenstem Fan vergeht bei der ausgedehnten Lektüre ihrer Kapriolen das Verständnis. Klaus Mann, dessen Exilzeitschrift "Die Sammlung" Annemarie finanziert hatte, gibt irgendwann entnervt auf. Er hat mit eigenen Depressionen zu tun. Erika ist viel beschäftigt, reist als Korrespondentin zwischen den Kontinenten hin und her. Annemarie wird schließlich direkt aus einer Klinik nach Europa verschifft, wo sie niemand willkommen heißt.
Annemarie stapft durch den Schnee von Zürich nach Bocken, nach Hause, wo sich ihre Mutter in ihr Zimmer zurückgezogen hat und dieses Kind nicht sehen will. Aus ihrer Sicht erzählt Mazzucco noch einmal von der enttäuschten Mutterliebe, ruft das Gespräch mit einem berühmten Psychiater ins Gedächtnis, dessen Kunst versagte: "Das Problem Ihrer Tochter sind Sie! … Sie war es, die sie unter unvorstellbaren Schmerzen zur Welt gebracht hatte. Sie hatte sie gepflegt, als sie fast gestorben wäre, denn ihre Tochter war immer ein zerbrechliches Geschöpf gewesen, ohne Energie, ohne jenen hartnäckigen Willen zum Leben, den sie dagegen immer gehabt hat. Sie hat sie dem Tod entrissen, an ihrem Bett gewacht, etwas, was sie nicht einmal für ihren Vater oder ihren Mann getan hatte, sie hat die Worte gefunden, um einen erbarmungslosen Gott zu überzeugen, ihr dieses Mädchen zu lassen. Sie hat ihre Tochter erschaffen … ein auserwähltes Geschöpf. Doch zur Belohnung kränkt und beleidigt Annemarie sie allein durch ihre Existenz – jede ihrer Gesten, jedes ihrer Worte ist ein Wunde, die nie verheilt und nur zu bluten aufhören würde, wenn sie stürbe. Aber kann man den Tod des meistgeliebten Kindes herbeiwünschen?" Reéne verbannt die so Geliebte weit von sich, in den Kongo.
Und noch einmal macht sich Annemarie auf die Reise, erlebt das Jahr 1941 in Léopoldville, der Hauptstadt von Belgisch Kongo. Hier, nunmehr endlich ohne Drogen, mischt sich Annemarie Schwarzenbach ein, führt erregte politische Debatten in rauschgeschwängerten Clubs der weißen Gesellschaft. Bis sie wieder die Ausgestoßene wird, die Unverstandene, die als Spionin verdächtigte. Sie flieht in den Urwald, zieht sich tief in den Kongo zurück und verprellt die einzige, die noch zu ihr hält, eine junge englische Witwe, die Annemarie aufrichtig liebt. Wie soll das enden? Wo kann ein Mensch, der sich nicht annimmt, sich nicht lösen und nicht bleiben kann, heimisch werden? Annemarie Schwarzenbach kehrt nach einem Jahr zurück in die Schweiz, voller Pläne für ihre journalistische Zukunft. Sie will das Häuschen in Sils kaufen, das sie lange schon als Zuflucht gewählt hat. Dann stürzt sie mit dem Rad und versinkt in einen Nebel, aus dem der Tod sie endlich erlöst.
An diesem 7. September 1942 schließt sich der Circulus Vitiosus und der Leser legt voller Trauer und Erleichterung ein Buch beiseite, das in malerischer Sprachvielfalt ein tragisches Scheitern besang. Der Fall A.S. scheint erledigt.