Roberto Bolaño
Ein Nachruf
»Se murió Bolaño, sabías?«, erschien unvermittelt in meinem Chat-Fenster. Es war Mitte Juli, ich saß in einem Internet-Café in Venedig und konnte die Nachricht zuerst nicht glauben. Bolaño litt an einer Leberzirrhose, wartete in Spanien auf ein Spenderorgan. Doch zu einer Transplantation kam es nicht mehr. Der chilenische Autor starb vorher, im Alter von 50 Jahren in Barcelona.
Roberto Bolaño war einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren. Seine Bücher, vor allem die moderne Odyssee, »Die wilden Detektive« (1998 , dt. 2002), die beiden Novellen, »Stern in der Ferne« (1996, dt. 2000) und »Amuleto« (1999, dt. 2002), und seine satirische Enzyklopädie, »Die Naziliteratur in Amerika« (1996, dt. 1999) haben den Autor weit über die hispanoamerikanische Welt hinaus bekannt gemacht. Für seinen Roman »Die wilden Detektive« erhielt er den Romulo-Gallego-Preis, die höchste Auszeichnung für spanischsprachige Autoren. Sein Werk wurde in viele Sprachen übersetzt.
1953 wurde Bolaño in Santiago de Chile geboren. Als Jugendlicher ging er mit seinen Eltern nach Mexiko. 1972 kehrte er nach Chile zurück. Ein Jahr später, als die Generäle zum Staatsstreich ansetzen, leistete Bolaño, damals überzeugter Kommunist, Widerstand Seite an Seite mit den Volksmilizen und kam ins Gefängnis. Nach ein paar Tagen wurde er entlassen und ging erneut ins Exil. Auf Umwegen gelangte er schließlich nach Europa, schlug sich in Spanien mit Gelegenheitsjobs durch, war – so die Legende – Müllfahrer, Nachtwächter, Verkäufer, vernachlässigte aber nie seine Passion für das Schreiben, publizierte Gedichte und Kurzgeschichten. Zuletzt lebte er zurückgezogen mit seiner Familie in Blanes, einer kleinen Stadt nördlich von Barcelona an der Costa Brava.
Bolaños Figuren sind – fast unweigerlich zieht man Parallelen zu dessen eigenem Leben – rastlos und immer ein wenig skurril. Sie sind Reisende, auf der Suche nach sich selbst, den großen Ideen, der Wahrheit und der Kunst. Manchmal sind sie sympathische Spinner, wie Bolaños alter ego Arturo Belano und sein Kompagnon Ulises in »Die wilden Detektive«, manchmal sind sie dämonische Gestalten wie der Diktaturscherge und Luftpoet Carlos Wider in »Der Stern in der Ferne«, manchmal auch ungewollte Helden, wie Auxilia Lacouture, die selbsternannte »Mutter der mexikanischen Poesie«, die 1968 tagelang eingesperrt auf dem Frauenklo der Universität ausharrt, während das mexikanische Heer in den Fluren ein Massaker an den Studenten verübt.
Wie in »Amuleto« schlägt Bolaño auch in anderen Romanen den Bogen zur Geschichte. Bei »Naziliteratur« und »Nocturno de Chile« (2002) ist die Pinochet-Diktatur der historische Bezugsrahmen. Auch wenn manche seiner Figuren eine »politische« Vorstellung von Literatur entwickeln, sind Bolaños Werke dennoch nicht in klassischem Sinne »politisch«. Viel eher reflektieren sie das Erzählen an sich, fragen, wo die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Kunst und Wirklichkeit verlaufen, und danach, wie man den Schrecken erzählen kann, der eigentlich immer unsagbar bleibt. Dabei ist seine Literatur technisch versiert und komplex – man merkt, daß der Argentinier Jorges Luis Borges einer seiner Lieblingsautoren ist. Dennoch ist Bolaños Werk – bei aller Liebe für das Argument – nicht schwerfällig. Es überrascht vielmehr durch einen leichten, erzählerischen Ton, durch ironische Seitenhiebe auf den Kulturbetrieb und eine Fülle von Ideen. Wie zufällig entstehen in ihm Abbilder einer verlorenen Welt: des Lateinamerikas der 60er und 70er Jahre, der Generation der revolutionären Jugend, des prekären Lebens lateinamerikanischer Immigranten in Europa und eine Karte der chaotischen Megalopolis México D.F.
In seinem Hauptwerk »Die wilden Detektive« schwirren zwei Jungdichter aus, um eine verschollene Dichterin zu finden, die sie für die Begründerin der mexikanischen Avantgarde halten. Auf ihrem Weg durch Mexiko, Lateinamerika und Europa begegnen sie unzähligen Figuren, die sie auf immer neue Spuren locken, immer neue Geschichten zu Gehör bringen. Einige dieser Geschichten haben beim Schreiben ein Eigenleben entwickelt, und Bolaño hat sie herausgelöst, als Ausgangsmaterial für neue Bücher verwendet.
Letzten November sollte Bolaño zu einer Lesung in die Schweiz kommen, dabei hätte ich ihn fast kennengelernt. Die Geschichte unserer Beinahe-Begegnung in Zürich kommt mir im Nachhinein vor, wie eine der Geschichten aus »Die wilden Detektive«: Zürich, Kirchgasse 4, Café Altstadt. Bolaños deutscher Verleger hatte mir mitgeteilt, daß der Autor ein paar Tage in der Schweiz sein würde. Ich schrieb Bolaño eine Mail, bat um ein Interview. Bolaño antwortet kurz und höflich, ein Schweizer Literaturprofessor vor Ort sollte das Treffen arrangieren. Als ich mich um 17 Uhr im Café Altstadt einfand, war von Bolaño keine Spur. Zwei Kollegen von der Neuen Züricher Zeitung warteten ebenfalls. Anderthalb Stunden verspätet kam der Professor, sichtlich aufgeregt, in Begleitung einer viel jüngeren Chilenin.
Bolaño komme nicht, brachte er hervor. Der Autor sei am Flughafen in Barcelona aufgehalten worden. Sein Paß sei nicht mehr gültig. Ein Mann, der in seinem Leben halbe Weltreisen unternommen hatte, scheiterte an einer banalen Grenzformalität. Vielleicht hatte Bolaño gespürt, daß ihm nur noch wenig Zeit blieb. Die Reise in die Schweiz, für eine Lesung und einen lobhudelnden Vortrag über sein Werk, schien ihm da verzichtbar.
Tage später schrieb ich Bolaño eine E-Mail, in der ich unser verpaßtes Treffen bedauerte.
Er antwortete wieder kurz: »Querido Timo, lo siento mucho, un abrazo, Roberto Bolaño«.. Wie nach seinem Tod bekannt wurde, hinterläßt er ein 1000-seitiges Romanmansukript mit dem Titel »2666«.. Korrigieren konnte er es nicht mehr. Was immer das bei ihm auch heißen mag. Vielleicht nur, daß er es nicht geschafft hat, ein, zwei Novellen heraus zu lösen und getrennt zu veröffentlichen.