Das dicke Ende
Über den befremdenden Roman "Schlesisches Wetter" von Olaf Müller
"Von den Kontaktlinsen bekam ich schmierige Entzündungen, die nur mit klebrigen Salben zu behandeln waren. Meine Augäpfel verfärbten sich dunkelrot. Eine gelbe Brühe lief mir ständig aus den Augenwinkeln …" Das ist nicht schön. Dieser Mann, den Olaf Müller als unbeschäftigten Journalisten und ziemlich unsympathischen Ich-Erzähler Alexander Schynoski vorführt, eignet sich kaum als Identifikationsfigur. "Wenn ich auf die Waage stieg, hoffte ich, dass aus irgendeinem unerfindlichen Grund die Anzeige auf dem Display nicht dreistellig ausfallen würde. Den Blick in den Spiegel mied ich. Inzwischen wog ich weit über einhundertzwanzig Kilo. Maureen versicherte mir, dass sie das anziehend fände. Ich konnte meinen eigenen Anblick nur noch schwer ertragen …"
Warum macht es uns Olaf Müller so schwer? Der Leser quält sich durch die beinahe 150 Seiten lange Beschreibung eines Mannes und seines sinnentleerten Alltags, die nur eines deutlich macht; einen wie Schynoski möchte man nicht kennen. Schynoski ist eklig. Überflüssig. Fett. "Es hatte nur wenige Monate gebraucht, um mich mit diesem Wanst zu versehen. Von meinem schmalen Hintern zog sich bald ein Panzer bis über die Brust. Alles redlich angefressen …"
Warum sich einer in solch dicken Panzer flüchtet, wird nicht erklärt. Klar ist nur, dass Schynoski nicht weiß, was er will. Andere entscheiden für ihn. Zweimal im Jahr telefoniert er mit seiner Mutter. Freunde hat er nicht. Lethargisch, aber beharrlich macht er sich seiner erfolgreichen Freundin, der englischen Architektin Maureen, überdrüssig. Der einzige Job, den er hat, ist eine Gefälligkeit seines Ex-Chefs. Schynoski soll zwei polnische Journalisten aus Wroclaw vom Hauptbahnhof ins Hotel am Alex geleiten. Ach ja, die Geschichte spielt in Berlin, was aber nebensächlich bleibt.
Und jetzt nimmt uns die Handlung endlich gefangen. Diese beiden Polen, Beata und Witek, rühren an Schynoskis Vergangenheit. Besser gesagt, an seinen schlesischen Wurzeln. Und da unser Nichtheld zufällig bald vierzig wird und seine Freundin ihn schon mit dem Rückflugticket in London erwartet, wohin er eigentlich übersiedeln sollte, schafft er schließlich doch etwas Unerwartetes. Er steigt in den Zug nach Leipzig. Beim ersten Wiedersehen nach zwölf Jahren bringt er seine Mutter innerhalb einer Nacht dazu, ihre "schlesische Geschichte" zu erzählen. Es purzelt aus ihr heraus. Die etwas gewaltsame Konstruktion dieses Ergusses belohnt den geduldigen Leser immerhin mit Einzelheiten der schlesischen Familiengeschichte. Der Flucht aus Fürsten-Altguth, Eindrücke einer Kindheit, die ein halbes Jahrhundert zurückliegt, und einem Land spielte, das es so nicht mehr gibt. Warum aber redet die Mutter plötzlich? Nach vierzig Jahren des Schweigens? Vor einem Sohn, den sie nicht mehr kennen kann. Den sie noch liebt?
Am Ende der langen Enthüllungen sitzt Schynoski im Zug nach Breslau. Mit viertausendachthundertundzehn Mark in der Tasche. Und nun wird es endlich spannend. Was sucht der korpulente Versager und Zweifler in Polen? Sein Leben, seine Existenz in Berlin, waren bereits für die Übersiedlung nach London aufgelöst worden, seine Barschaft trägt er bei sich. Und einen Bildband über Breslau. Telefonnummern von Witek und Beata. Und die Geschichten der Mutter, Tante, Großmutter …
Olaf Müller geht in seinem zweiten Roman unversöhnlich mit sich und seiner Hauptfigur um. Da ist kein Platz für Romantik, für männliche Egotrips, für Verschwörungen. Da ist viel nacktes Fleisch, das nicht liebkost wird. Da ist ein Mensch, der helfende Hände von sich schleudert, sich hässlich macht, uns vor den Kopf stößt. Olaf Müller verstört, ändert Stil und Fluss seiner Geschichte nach Belieben. Und doch, wenn man durchhält, bricht etwas auf. Glänzt etwas durch, durch die spröde, fettleibige Figur des Alexander Schynoskis.
Der Eigensinn des A.S. macht das überraschende Ende des Romans möglich. Nicht die Pfunde wird Schynoski los, aber die Hülle, die Sprache und die Regeln seiner Herkunft, seiner Entwicklung. Diese Heimkehr und Rückwende ins eigene Ich berührt. Und trägt.