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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



September 2003
Gerald Fiebig
für satt.org

Ralf Burnicki:
Überhitzung. City Poetry

Edition Blackbox, Bielefeld 2003

32 S., br.
4,50 EUR
(zzgl. Versand)

Bestellung über
edblackbox@yahoo.de

The Sound of the City

Ralf Burnickis lyrische Prosa macht die
Kraftströme hörbar, die die Städte durchqueren



Klaus Theweleits am 10. September erschienener brillanter dreizeiliger Anti-Nachruf ("Soll nicht in Frieden ruhen") auf Leni Riefenstahl ist eindeutig das mediale Highlight dieses Frühherbstes, kann aber kaum darüber hinwegtrösten, dass derzeit anlässlich der Wallraff/Stasi-Geschichte eine nachholende Austreibung jener Kräfte der Negativität unternommen wird, ohne die die Bundesrepublik – bei allen Zweifeln, die man an ihrem politischen System hegen kann – nach dem Faschismus noch nicht einmal so weit gekommen wäre. Noch unheimlicher als diese recht unverhohlene und nicht wirklich überraschende Hetze der über Jahrzehnte hinweg doch erstaunlich konsistent in ihrer Freund-Feind-Weltsicht verharrenden „Springerpresse“ nimmt es sich vielleicht aus, wenn das liberale (?) Feuilleton der ZEIT am kritischsten Philosophen deutscher Sprache, den das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, anlässlich seines medial verdächtig lautstark abgefeierten (ein Wort, das ihm sicher „gefallen“ hätte – so wie „andrehen") Geburtstages ausgerechnet seine „großen Genieaugen“ hervorzuheben weiß. Diese Charakterisierung macht im Handstreich die Weigerung, sich auf mehr als die pure Oberfläche eines Images einzulassen, zum Maßstab der Auseinandersetzung mit Gedanken. Als Kompliment ist eine solche Bemerkung ungefähr so respektvoll wie der Tipp, man solle doch Ingeborg Bachmann lesen, weil sie große Brüste hatte. Als Kommentar zu einem wie auch immer gearteten Werk ist sie völlig unadäquat, weil es seine Substanz so sehr verfehlen muss wie das Urteil, dass Habermas nichts Vernünftiges zu sagen habe, könne man ja schon an seiner Hasenscharte sehen. Dass dieser „physiognomische“ Diskurs von Augen-, Nasen- und Schädelvermessern aber aus den Horten der gediegensten bundesrepublikanischen Bildung kommt, legt den dringenden Verdacht nahe, dass heute „Fortschritt und Barbarei“ nicht in der Massen-, sondern in der Hochkultur den höchsten Grad ihrer „Verfilzung“ erreichen.


Ralf Burnicki
Ralf Burnicki

Angesichts dieser Phänomene, die man durchaus als eine „Heimholung“ der Geschichte des Widerstands linker Intelligenz gegen die restaurativen Tendenzen der Bonner Republik verstehen kann – eine Heimholung aus der Sicht eines Deutschland, das sich mit einem „Wir hatten euch nie nötig, weil wir immer schon voll demokratisch waren“ den Persilschein für nationalstaatliche Eurythmieübungen erschleichen will – tut es wohl, zu sehen, dass sich vereinzelte Dichter und Denker wie Ralf Burnicki und Michael Halfbrodt, die in Bielefeld seit 1994 das libertäre Literaturprojekt Edition Blackbox betreiben, explizit im Namen des Anarchismus zu Wort melden, ist dieser Begriff doch noch immer eine Chiffre für den Versuch der denkbar radikalsten Negation bestehender sozialer Verhältnisse im Namen einer gerechteren Gesellschaftsordnung.
Gesinnungsästhetiker, aufgepasst: Mit Anarchismus ist hier selbstverständlich nicht die in so genannten „Schwarzen Blöcken“ gepflegte martialische Bundeswehr-Ersatzrhetorik autonomer Teilzeit-Taliban gemeint, die nach Abschluss ihres subkulturellen Traineeprogramms durchaus auch mit verantwortungsvollen Posten in der Werbung kompatibel sind. Hier geht es um jene Kraft fundamentalen Zweifels, die guter Literatur schon aufgrund ihrer Form zu Gebote steht und die hier ganz bewusst eingesetzt wird.

Die aktuelle Veröffentlichung der Edition Blackbox versammelt unter dem Titel Überhitzung. City Poetry vier längere Prosagedichte von Ralf Burnicki. Der Band, den effektvoll mit harten Kontrasten verfremdete U-Bahn-Fotos von Barnd Gruschka illustrieren, greift in seiner sprachkritischen Auseinandersetzung mit dem Erleben von „Stadt“ als physischem, aber auch sozialem Raum die Themen früherer Arbeiten auf, die Burnicki 2000 in dem zusammen mit Michael Halfbrodt in der Edition AV erschienenen Band Die Wirklichkeit zerreißen wie einen mißlungenen Schnappschuß (ISBN 3-9806407-6-0) vorlegte. Der lyrische Blick folgt alltäglichen Tages- und Nachtabläufen von Stadtbewohnern: durch soziale Rollen normierte Wege, erst zur Arbeit und dann (am Freitagabend) ins Vergnügen, dabei den vorgegebenen Verkehrsnetzen folgend. Die geplanten, verwalteten Strukturen der Stadt werden zu Chiffren gesellschaftlicher Entfremdung, die sich auch in ihren sklerotischen Sprachhülsen zeigt – welche hier aber so gekonnt montiert werden, dass sie sich entlarven und in der Überspitzung eine ästhetische Qualität gewinnen: „die Systematik zweckkonformer Aufbauten, Mülleimer und Plastikbänke, umstellt von blau bezogenem Reinigungspersonal, das auf diese Weise ambulante Funktionen darstellt."
Neben dieser distanzierten Ver-Wendung eines planerischen Jargons (in ihrem sprachkritischen Impetus ähnelt sie Big Teds entlarvend gemeinter Verwendung von Wörtern wie „andrehen") verweigern sich Burnickis Texte durch Strategien der „sürrealistischen“ (Walter Benjamin) Verfremdung aber auch der Schematisierung von Stadt-Erleben, das trotz aller sozialer Reglementierungs- und Überwachungsmechanismen als reiches Reservoir sinnlichen Erlebens erscheint: es geht dem „Stadtpark entgegen, der etwas Glanz an die Passanten verfüttert", das umherschweifende Denken ist „die ewige Suche nach einem Parkplatz", und aus den Verkehrsnetzen „dringt Rauschen, als schaffte der Morgen das Alphabet durch alle Kanäle heran". Burnicki, der sich wie in früheren Texten auch hier auf Paul Virilios Kritik eines ortlosen Urbanismus bezieht, der Stadt nur als Durchgangs- und Konsumraum begreifen will, ist weit davon entfernt, die Stadt als Lebensraum zu denunzieren. Vielmehr erscheint der Stadt-Raum als unhintergehbare „Immanenz", jene einzige Dimension, in der sich nach Deleuze/Guattari die Produktivität unserer Wünsche entfalten kann – wenn sie es denn kann.
Bei Burnicki jedenfalls ist diese Produktivität nicht gering veranschlagt. Kritisiert wird die herrschende soziale Organisation der Städte, doch erscheint nicht etwa die „Natur“ als „bessere Gesellschaft". Zwar mag es sein, dass es kein richtiges Leben in der falschen Stadt gibt, wo sogar die lyrische Sprache des Urbanismuskritikers den Jargon der Planer für ihre Zwecke entwenden muss – doch indem Burnicki einen Text über die (latent verzweifelte) Suche der Städter nach intensiven Feierabenderlebnissen motivisch mit dem abschließenden Text über ein erfüllendes erotisches Erlebnis verbindet, weist die Komposition des Buches dem Begehren der Stadtbewohner als potenziell verändernder Kraft eine herausgehobene Stellung zu: „All dieses plötzlich anfallende Gemüt, diese Evolution von Gesichtern, diese tropische Ausschüttung von Lächeln [ …] Es ist dieses Lächeln, das mir die Worte auszieht [ …] während draußen die Stadt sich lärmend die letzten Straßen anzieht. Wir hören ihr noch eine Weile zu.“