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September 2003
Nikola Richter
für satt.org

Imre Kertész:
Liquidation

Aus dem Ungarischen von Christine Viragh Suhrkamp 2003

Imre Kertész: Liquidation

150 S., geb..
17,90 EUR
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Imre Kertész’ neuer Roman „Liquidation“ erweitert seine Roman-Trilogie der Schicksallosigkeit zur Tetralogie

"Weiter/ Abbrechen“ – mit diesen beiden Befehlen des Computers endet Imre Kertész’ neuer Roman „Liquidation“ (Magvetö), der seit 15. September auch in deutscher Übersetzung (Suhrkamp) zu erhalten ist. In diesem simplen, alltäglichen Wortpaar steckt das große Dilemma und die Existenzfrage, denen der ungarische Nobelpreisträger in allen seinen Werken auf der Spur ist: Wie kann der Mensch sein Leben bestimmen, wird es nicht für ihn fremdbestimmt? Wie kann man weitergehen und weiterleben, wenn man festgestellt hat, ohne Schicksal zu sein? Schon der jung-naive Protagonist aus Kertész’ bekanntestem Werk „Roman eines Schicksallosen“ erklärt sich das Überleben in Auschwitz und Buchenwald auf ähnliche Weise. Man mache Schritte, immer nur kleine Schritte und nur so könne man die KZ-Hölle ertragen. Man entscheide sich immer neu für das Weitergehen.

In „Liquidation", laut Autor einer Art Fortsetzung zu „Kaddisch für ein ungeborenes Kind“ aus der Roman-Trilogie der Schicksallosigkeit, kommt diese Theorie in der Person Bé verschärft und zugespitzt zum Ausdruck. Dessen Daten: 1944 in Auschwitz geboren, Undercover-Schriftsteller in Budapest, 1990 nimmt er sich das Leben, der Verlagslektor, Quasi-Doppelgänger und Freund Keserü verwaltet den Nachlass und macht sich auf die Suche nach Bés Hauptwerk, einem Roman, der verschollen ist. Solche biographischen Fakten lassen eine Kausalität vermuten, eine Folge, nach der das eine sich notwendigerweise aus dem anderen ergibt. Aber genau das ist fragwürdig geworden.

Kertész beschreibt seine Werke als „atonal". Er verweigert sich somit einem harmonischen Zusammenklingen und einer runden Form. Der Roman wird ständig von Auszügen aus einem Theaterstück Bés unterbrochen, das zufälligerweise auch „Liquidation“ heißt und die Handlung des Romans vorwegnimmt und spiegelt. So ist alles ineinander verwebt: Die Theaterprotagonisten sind auch Romanprotagonisten, im Roman wird ein Roman gesucht, dessen Ergänzung ein Theaterstück ist.

Die schon leicht ergraute Postmoderne meldet sich also mal wieder zu Wort: Der Text als Gewebe von Textfragmenten, die Verweigerung jeglicher Totalität für Handlung, Charakter oder Form. So entsteht ein Literaturkrimi in der Nachwendezeit, in der der Erzähler als Detektiv versucht, sein zerstückeltes Wissen, seine Vermutungen und Ahnungen zu einem einheitlichen Bild zusammenzubringen. Denn Keserü glaubt, dass in der Literatur noch eine Einheit herzustellen ist. Das gesuchte Stück Text wird aber zu einer Leerstelle. Und auch der Roman kehrt immer wieder wie in einem repetetiven Atemholen zu einer „Grundsituation“ zurück, zu einer Sitzung im Verlag 1990, währenddessen dieser aufgelöst wurde.

Der Titel „Liquidation“ muss demnach in seiner Radikalität wörtlich genommen werden: Es geht um die selbstgewählte Liquidation eines Menschenlebens, einer Identität, eines Staates, damit zusammenhängend eines staatseigenen Verlages, eines Textes (im Kaminfeuer), einer Liebe und als Folie dieser verschiedenen Auflösungen um das Verschwinden der Wirklichkeit. Diese ist für den Erzähler zu einem „problematischen Zustand“ geworden, so sehr, dass er nurmehr von der „sogenannten Wirklichkeit“ sprechen kann. Zusammen mit Bés existenzialistisch anmutenden Theorien über das Böse im Menschen hat der Roman etwas Philosophisches. „Aber", so Kertész bei der Buchpräsentation am 10. September in Budapest, das alles sei „nicht philosophischer als in den anderen Büchern.“ Er sei höchstens von „Das Verschwinden der Gegenwart“ des deutschen Historikers Christian Meier beeinflusst worden. Kertész’ neuster Roman ist auf jeden Fall rätselhafter als seine vorherigen Werke. Auschwitz wird immer mehr zu einer existenziellen, sich entfernenden Chiffre, die die Menschen zu entziffern versuchen. So ist auch Bé ein Verschwindender und Verschwundener, dem die Weiterlebenden hinterherschauen: Kertész entwirft einen altersweisen Vorschlag für den Umgang mit den Spuren der Geschichte und macht den Appell, weiterzugehen, auch wenn die selbstgestellten Aufgaben unlösbar erscheinen.