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September 2003
Christian Bartel
für satt.org

Viktor Rotthaler (Hg.):
Marcellus Schiffer - Heute nacht oder nie

Tagebücher, Erzählungen, Gedichte, Zeichnungen
Weidle Verlag 2003

Marcellus Schiffer - Heute nacht oder nie

248 S., br.
23,00 EUR
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Marcellus Schiffer
Heute nacht oder nie



Es ist immer so eine Sache mit diesen nachgelassenen Tagebüchern. Entweder sind es verkappte Epitaphe in eigener Sache, geschrieben für den posthumen Einsatz am Publikum, dann sind sie zwar lesbar und verständlich, aber eitel wie Sonnenschein oder es sind tatsächlich private Sudelbücher, dann mögen sie zwar authentischer sein, sind aber so intim, daß der tugendhafte Leser geflissentlich weglesen dürfte, wie er eben auch weghört, wenn sich Fremde im Zugabteil lautstark über Geschlechtskrankheiten ihm ebenfalls unbekannter Personen austauschen. Natürlich kriegt er doch alles mit, aber es ist kein Wissen, das bereichert. Ein wenig ähnlich verhält es sich mit dem Tagebuch von Marcellus Schiffer, das den Kern von „Heute nacht oder nie“ ausmacht, das Viktor Rotthaler für den Weidle-Verlag herausgegeben hat. Die umfänglichen Tagebuchextrakte werden umschlossen von Zeichnungen, Texten und Zeitschriftenartikeln des Coupletdichters, Illustrators und Librettisten Schiffer, die den durchaus interessanteren Teil des Buches ausmachen.

Schiffer, der bei Emil Orlik in Berlin graphische Kunst studiert hatte, war erfolgreicher Texter für Friedrich Hollaender und Rudolf Nelson. Für Paul Hindemith schrieb er das Libretto zur Oper "Neues vom Tage". Bekannteste Werke dürften bis heute die Liedtexte zu "Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin" und zu "Heute nacht oder nie" sein. Seine zahlreichen anderen Revuetexte, seine Theaterstücke und Bearbeitungen, aber auch sein zeichnerisches Werk wurde schnell vergessen. Die Welt von Weimar, für die er schrieb, ist vergangen, die Pointen und Spitzen seiner eleganten Texte laufen heute ins Leere, es fehlt der Bezugsrahmen. Zeitlose Komik gibt es nicht. Gewisses Amüsemang verbreiten die Texte dennoch. Geschrieben in einer Zeit, in der Dekadenz noch eine halbwegs stilvolle Beschäftigung sein konnte, handeln sie vom "ungesunden Morphiumpieken" und vom "sexappeal im Garbostil". Sie klingen nach schnarrender Stimme, hochgezogener Augenbraue und weißen Handschuhen. Schön sind sie, mondän sind sie, aber unwiderruflich museal.

Marcellus Schiffer, Sohn eines jüdischen Holzhändlers, wurde 1892 in Berlin geboren und erlebte die Weimarer Zeit als halbwegs prominenter Bohemien und Salonlöwe in Berlin. Auf den zahlreichen Fotos des Buches entdecken wir ihn als gutgekleideten jungen Mann, gerne auch mit Monokel und Damenbegleitung, der dieser Berufung mit einigem Enthusiasmus nachgekommen zu sein scheint. Überhaupt die Fotografien dieses Buches: ihnen ist, so es sich nicht ohnehin um Bühnenfotos handelt, ein hoher Grad an Komposition und Pose zu eigen, der im Zeitalter der Digitalfotografie natürlich obsolet geworden und vollkommen "overacted" wirkt. Aber wie, zum Teufel, können Körperhaltungen veralten? Und warum stellte man sich in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Reihe auf einem Bein im flachen Wasser auf, um Ferienfotos zu machen?

Sehr verwegen ebenfalls die zahlreichen Anekdoten und Geschichten aus dem Berliner Nacht- und Kunstleben, die Schiffer in seinen knapp gehaltenen Tagebuchaufzeichnungen kolportiert, etwa wie die Tänzerin Gertrude Barrison einmal "am ganzen Körper mit Viehstempeln gestempelt" wurde oder wie ein damenhafter Jüngling in einem Nachtlokal Prügel bezieht, weil er einen dicken Herrn "angejuchzt" hat und dergleichen mehr. Davon gibt es viel in den Tagebuchaufzeichnungen und einige verbale Abreibungen bekannter und weniger bekannter Kollegen: "versoffene Wasserratte" (Walter Mehring, Lyriker, Essayist, Dramatiker), "alte, gewöhnliche Hure" (Trude Hesterberg, Diseuse, Kaberettistin), "hysterische dämliche Kuh" (Hertha von Walther, Schauspielerin). Nebenbei beschwert sich Marcellus Schiffer fortwährend über die Hypochondrie und Hysterie seiner Lebensgefährtin Margo Lion, einer damals recht bekannten Diseuse. Sehr penibel notiert er Wohl- und Fehlverhalten der Dame, deren Position dem Leser wohl oder übel verschlossen bleiben muß.

Das wirkt nun alles überhaupt nicht sehr einnehmend für Schiffer, dem man es gleichwohl nicht zum Vorwurf machen kann, denn schließlich befinden wir uns in seinem eigenen Tagebuch, dieser Abstellkammer für unaufgeräumte Gedanken und irgendwo muß er ja auch hin, der Ärger. Und außerdem: weder Schiffer selber, noch Marga Lion, in deren Besitz die Aufzeichnungen nach dem Tod Schiffers gingen, haben veröffentlichen lassen, sondern Lions Nichte, nach deren beider Tod. Schiffer und Lion werden da wohl ihre Gründe gehabt haben.

Aufschlußreicher sind da die Kurzrezensionen und Kommentare, die der vehemente Theater-, Kino- und Revuebesucher Schiffer zwischen seine sehr privaten Aufzeichnungen ("Elf Stunden geschlafen.") streut: "Sehr spannender Film, etwas zu lang, gute Idee: Fernsuggestion. Aber sehr mit Kitsch aufgezogen." schreibt er etwa zu Murnaus Film „Dr. Mabuse“ und spricht das aus, was wir schon immer vermutet hatten. Hauptsächlich aber kommentiert er die Programme der zahlreichen Berliner Bühnen, Revuen und Cabarets, begutachtet die Arbeit der Kollegen und spürt den Trends der Zeit nach. Bisweilen holt er sogar den Ratschlag eines Anderen ein: "Kurt Tucholsky sagte mir, man müsse jeden Einfall aufschreiben."

Im Juni 1930 reißen die Tagebuchaufzeichnungen ab, Schiffer ist mittlerweile mit Marga Lion verheiratet, beide sind sie beruflich recht erfolgreich, doch Schiffer verfällt zunehmend in Depressionen. Am 24. August 1932 vergiftet sich Marcellus Schiffer in seiner Wohnung. Der "Berliner Börsen Courier" kann weder "wirtschaftliche Schwierigkeiten noch familiäre Gründe" für seinen Freitod entdecken. Sein Freund Moritz Seeler beschreibt in einem Nachruf Schiffers Seelenzustand indes als den einer fortschreitenden "unendlichen Wurschtigkeit und Schnuppigkeit".

Schiffers Zeit war abgelaufen, der stilbewußte Dandy taugte weder zum Kämpfer noch zum Agitator. "Die Zeit", orakelte der Kritiker Herbert Ihering anläßlich Schiffers Todes, "scheint nur noch grobe Talente zu behalten." Kurz nach Schiffer starb auch sein Berlin.