Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



Oktober 2003
Frank Fischer
für satt.org

Wolfgang Büscher:
Berlin – Moskau

Eine Reise zu Fuß
Rowohlt, Reinbek 2003

Wolfgang Büscher: Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß

237 Seiten, geb.
17,90 EUR
   » amazon

So rasch wie möglich tiefer nach Osten
Wolfgang Büschers prätenziöser Marsch auf Moskau



Wallfahrtsorte sind dazu da, dass Religionstouristen, Spaziersportler und Selbstverwirklicher sich auf den Weg dahin machen, um unterwegs unserer säkularisierten Welt ein Quäntchen spiritueller Erfüllung abzukaufen. Ob Lourdes, Santiago de Compostela oder Fatima, immer geht es um friedliche Kontemplation.

Ganz anders liegt der Fall bei einem weiteren Wallfahrtsweg, der ganz weltlich über 3000 Kilometer von Mitteleuropa nach Osten reicht, nach Moskau. Er wird in der Regel nur alle paar Jahrhunderte gegangen und nur in größeren Gruppen und nur in Uniform und nur gut bewaffnet. Wolfgang Büscher ist ihn nun abermals abgelaufen und hat über seine Pilgerschaft ein Buch geschrieben.

In Anlehnung an seine Vorgänger liest sich das Inhaltsverzeichnis auch wie die Veranstaltungsdaten der Napoleon World Tour 1812 ("Moskau!") oder des Unternehmens Barbarossa ("Über die Grenze im Sturm"). Im Unterschied zu ihnen macht sich Büscher aber ganz allein auf den Weg, ohne Nachschub, ohne Pferderücken im Schritt, ohne Artillerieunterstützung, ohne Schützenpanzer. Nur die Combat-Hose ist geblieben.

Er bricht im Frühsommer auf, etwa zur selben Jahreszeit wie die Wehrmacht, aus deren breiter Front von Ostpreußen bis zu den Karpaten er sich für "ziemlich exakt den (Weg) der Heeresgruppe Mitte" entscheidet (Klappentext). Er läuft von der Spree bis an die Memel und darüber hinweg, schneller als die Wehrmacht, und – folgt man seiner paramilitärischen Diktion – auch erfolgreicher als sie, denn er bleibt nicht vor der Stadt im Schlamm stecken, sondern erreicht sein Ziel.

Publikum und Kritik loben ihn dafür überschwänglich. Berlin – Moskau funktioniert auf derselben Schiene wie die Doku-Soaps über die Nazijahre. Wäre Büscher in eine andere Richtung gelaufen, er hätte kein Thema gehabt, dass 237 Buchseiten trägt. Einmal klopft er bei einer Veteranin an die Tür, die sich an die "Liebe eines deutschen Hauptmanns" zu einer jüdischen Teenagerin erinnert: "Hinter der Tür wartete eine Geschichte, das heißt, sie wartete nicht mehr, diese Erinnerungsklingel war schon oft gedrückt worden. Die Erinnerung hinter der Tür war im deutschen Fernsehen gewesen, in deutschen Zeitungen, im deutschen Rundfunk." (119) Alle sind schon dagewesen, das macht aber nichts, Büscher schindet sieben Seiten mit der Story. "Erinnerung war neben Holz der einzig exportfähige Rohstoff dieses Landes" (119) schreibt er und baut ihn ab, um daraus schön zurechterzählten Schmonzes zu destillieren.

Die drei eingeflochtenen Liebeskapitel bieten auf wenigen Seiten den Plot für schwülstige Liebesromane. "Die Liebe einer polnischen Gräfin" etwa erzählt die Geschichte einer der "geheimnisvollsten Gestalten des Zweiten Weltkriegs" (Klappentext) und leistet sich Sätze wie diesen: "In ihrem Schrank hing das fußlange Kleid, welches die Urgroßtante ihres Mannes zu Napoleons Krönung getragen hatte." (45) Und man fragt sich, ob man diesen Adelskitsch lesen wollte, als man das Buch aufgeschlagen hat.

Auch das zweite Liebeskapitel ("Die Liebe eines russischen Partisanen") zeigt, dass es Büscher vor allem darauf ankommt, rührende Romanplots aufzustellen: Ein russischer Partisan, nach Selbstauskunft der Held der Gegend, dessen Einheit natürlich "die mobilste und kampffähigste der Gegend" gewesen ist (93), liebt ein Mädchen, das dann von seiner eigenen Einheit in Sippenhaft genommen und ermordet wird, weil ihr Vater für die Deutschen spioniert hat. Im Dialog mit dem Ex-Partisanen taucht Liebe nicht als Passion auf sondern verkümmert zum Fragebogen: "Ich fragte ihn, ob er sie geliebt habe. 'Ja.' Ich fragte ihn, ob es seine Abteilung getan habe. 'Ja.' 'Waren Sie bei der Aktion dabei?' 'Nein.'" (95) Auch die erwiderte Liebe des deutschen Hauptmanns wird auf diese Art bewiesen: "'Hat sie ihn geliebt?' ( …) 'Immer nur ihn.' 'All die Jahre?' 'All die Jahre.'" (125)

Um was also geht es dem Autor? Um Menschen? Jedenfalls nicht um Authentizität. In Polen kann er sich mangels Sprachkenntnissen nur mit Deutschlehrerinnen unterhalten und lässt alten polnischen, nun kosmopolitischen Adel auf Englisch den bereits erwähnten Adelskitsch ausbreiten und den Verlust der enteigneten Gutshöfe betrauern. Auch sonst zapft er den Geschichtenfundus beliebiger Menschen an, die er unterwegs trifft, und lässt sich davon bezirzen.

Trotz Russischkenntnissen werden die Bekanntschaften nicht interessanter, keine bleibt länger haften, mitunter bleiben sie sogar ganz aus: "Ich war jetzt bald ein Vierteljahr allein auf der Straße, seitdem ich Minsk verlassen hatte, hatte ich nur flüchtige Begegnungen mit Menschen gehabt" (214). Für Büscher ereignet sich selten mehr als der ewig gleiche Marschrhythmus. Und so scheinen die gefüllten Buchseiten vor allem als abgerungene schriftstellerische Leistung, die neben Büschers unerschöpflichem Geschichtsbewusstsein von allen bisher erschienenen Rezensionen besonders hervorgehoben wird.

Als persönliche Motivation für den Gang nach Moskau schimmert das Schicksal seines jung gefallenen Großvaters durch, aber auch in diesem Fall ist er um Idealisierungen nicht verlegen: "Ich kenne dich", flüstert er seinem Erdgeist zu, "du bist der Gymnasiast aus München, der mit dem 'Faust' in der Tasche seiner Uniform. ( …) und du rezitierst mit schlotternder Kinnlade den Osterspaziergang hier im blutigen Schlamm" (18).

Für sich selbst findet er Kriegsverletztenvokabular angemessen ("Es war immer der rechte Fuß", 13), will aber trotzdem "so rasch wie möglich tiefer nach Osten" (30). "Nein, kein Zurück. Vorwärts!" (34) Wie ein versprengter Soldat zieht er durch die Gegend und muss plötzlich feststellen: "Nichts stimmte mehr, keine Berechnung, kein Tagesziel, ich konnte meine Pläne vergessen und würde in den russischen Winter kommen." (139)

Im Kapitel "Der Kampf" kurz vor Buchschluss schildert er, wie er einen mutmaßlichen Räuber in die Flucht schlägt ("hier also sollte es sein", 223). Er vergleicht diese Situation allen Ernstes mit zwei Schlägereien aus Kindheit und Studentenzeit, und diesen Erinnerungen "endlich ist er nicht gewachsen, ( …) er ergibt sich" (223). All das passiert in der Gegend, "wo der deutsche Vormarsch stecken geblieben war, ganz kurz vor Moskau" (224), und man ist froh, dass Büscher am Ende nur das Ortsschild von Moskau umarmt und die Stadt nicht als erobert proklamiert.

Büscher will über die "Gedenkmaschine, ( …) deutsche Wertarbeit" (39) hinausgehen, mit seinem überbordenden Geschichtsbewusstsein gelingt ihm das aber nicht. Es nervt. Seine Reportage ist ein Schritt zurück, weil sie sich devotionalistisch für verwitterte Mahnmale und Jagdtrophäen aus Hermann Görings Sammlung (180) interessiert. Als Büscher hingegen in Vitebsk den 11. September erlebt, kann er nichts damit anfangen, es interessiert ihn auch nicht weiter.

Berlin – Moskau vermittelt kein Bild vom Leben in den Ländern an der Grenze der Europäischen Union. Die fast ausschließliche Suche nach den Konflikten der Vergangenheit suggeriert, dass die passierten Landstriche mitsamt Einwohnern im Krieg steckengeblieben sind. Der pseudomilitärische Wortschatz und die eschatologischen Implikationen des Endziels Moskau karikieren sich selbst und lassen Wolfgang Büschers Marsch auf die russische Hauptstadt als Farce erscheinen.