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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



Oktober 2003
Adrian Kasnitz
für satt.org

Aus der Provinz ins Zentrum (et retour).
Eine Anleitung
von Adrian Kasnitz

Texte:
Friedmar Apel:
Das Buch Fritze

Suhrkamp 2003
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Alfred Döblin:
Berlin Alexanderplatz

EA: 1929
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Johannes Jansen:
Dickicht Anpassung

Ritter 2002
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Irina Liebmann:
Berliner Mietshaus
Mitteldeutscher Verlag 1982
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Heinrich Mann:
Der Untertan

EA: 1918
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Cees Nooteboom:
Allerseelen

Suhrkamp 1999
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Brigitte Reimann:
Die Geschwister

Aufbau 1964
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Ralf Rothmann:
Hitze

Suhrkamp 2003
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Rüdiger Safranski:
Globales Dickicht

Vontobel-Stiftung 2002

Jochen Schimmang:
Der schöne Vogel Phönix

Suhrkamp 1979
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Aus der
Provinz ins Zentrum
(et retour).


Eine Anleitung
von Adrian Kasnitz

Die letzten 15 Jahre können getrost als Berlin-Jahre bezeichnet werden. Keine andere Stadt im deutschen Sprachraum erfuhr in dieser Zeit mehr Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit ist ungebrochen. Die Stadt zieht immer noch Kunstwillige an, auch wenn sie schrumpft (jedoch der Speckgürtel wächst); sie zieht immer noch 20-Jährige an, auch wenn der Berliner Senat alles drangibt, die Studenten von seinen Universitäten fernzuhalten.

Einen Berlin-Roman schreiben zu wollen, ist keine selten geäußerte Idee. Themen gibt es zuhauf. Allerdings kommt es auf die Kunstfertigkeit an. Bleibt man nicht nur in Mitte stehen, fallen einem die 40-Jährigen in Kreuzberg, die 30-Jährigen in Prenzlauer Berg, die 20-Jährigen in Friedrichshain auf. Man sollte nicht auf die hippen Stadtteile fixiert bleiben, einen Spaziergang nach Köpenick wagen oder den Charme des desavouierten Ku'damms entdecken. Schon für Schimmangs Murnau, Anfang der 70er Jahre also, bestand der Reiz, mit der Buslinie 19*, der heutigen 119, den Ku'damm entlang nach Halensee zu fahren. Für Partys eine mediokre Gegend vielleicht, nichtsdestoweniger eine gute, um dort dem Haushalt nachzugehen und der Arbeit zu frönen. Ein Ort der Lichtung?

* Auch Fritze schätzt diese Buslinie.

Hier teilt sich Berlin in neue Orte und alte Orte. Hier werden ganze Stadtteile mit zugewanderten Provinzlern bevölkert, die die Verbindung sowohl zur eigenen Provinzgeschichte als auch zu den einzelnen Kiezgeschichten leugnen. War nicht diese Stadt immer schon ein Ort der Einwanderung: angefangen bei der deutschen bis hin … - müßig, alle Namen aufzuzählen. Wohnten nicht 1980 in einem Mietshaus im Bezirk Prenzlauer Berg zugezogene Parteien aus Magdeburg, aus Pommern, aus der Danziger Gegend und dem Süden der DDR? Nicht von ungefähr heißt ein Kreuzberg-Roman Hitze. Hitze als Amalgam, um die einzelnen Bestandteile zu einem geschmackvollen Ganzen zusammenzubringen. Da freut sich der Biochemiker Louis Maillard, wenn die Zucker- und Eiweißmoleküle in Wallung geraten, Aromastoffe absondern, Pigmente bilden.

Jeder Berlin-Roman kennt seine Zeit, seine Umstände, seine Orte: Diederich Heßling liebt das Wilhelminische Berlin, Franz Bieberkopf verstrickt sich im Weimarer, Reimanns Elizabeth kennt die Gegensätze der beiden Berlins, Murnau verzettelt sich im Nach-68er Milieu, Fritze treibt im Drogensumpf, DeLoo schwindet in der Nachwende, wenn die Stadt wieder verschmilzt, die einzelnen Stadtteile mit neuen (Geschmacks-)Nuancen überzeiht. Am Ku'damm ist dies präsent in der Absenz des Glamours, der sich in den Tagen vor 1989 dort entfaltete.

War nicht Arthur Daane der traurigste Berlin-Held? Hitze mag nicht an diese Traurigkeit heranreichen, doch ist DeLoo ein enormer Held der Leere. Der Verfall DeLoos ist die Skizze eines potenziellen Verfalls Westberlins ohne Wiedervereinigung, ein Verfall in der Ausweglosigkeit, der sich schon Murnau ausgeliefert sah, um ihr letztendlich in die stilleren Gefilde Westfalens und Schwabens zu entfliehen. DeLoo verhält sich gegenläufig zur boomenden Stadt. Sie bringt es als Hauptstadt der BRD zu höchsten Ehren, während er auf die niedrigste soziale Stufe sinkt: letztmals wird er als ortloser Berber gesichtet.

Ist die Stadt ein Wald? Eine Schonung? Ein Dickicht, in dem man verschont bleibt oder der Verstrickung, dem Untergang geweiht ist, wenn man sich nicht zeigt, wenn man nicht fähig ist, eine Lichtung aufzusuchen, selbst zu roden, zu walzen, zu planieren, zu wü(s)ten?