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Oktober 2003
Thomas Vorwerk
für satt.org

Philip Roth:
Der menschliche Makel
The Human Stain

Rowohlt 2003

Philip Roth: Der menschliche Makel (The Human Stain)

400 S., EUR 9,90
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Philip Roth:
Der menschliche Makel
(The Human Stain)



Unter Druck gesetzt durch den bevorstehenden Kinostart der Verfilmung von Robert Benton (Regisseur von "Nobody's Fool", "Kramer vs. Kramer", Drehbuch zu "Bonnie & Clyde") habe ich es jetzt endlich geschafft, einen Roman von Philip Roth zu lesen. Seit seinem Pulitzer-Preis-ausgezeichneten "American Pastoral" habe ich ein Auge auf den Autoren geworfen, und seit einem Jahr steht "I Married A Communist" in meinem Bücherregal und schaut mich vorwurfsvoll an …

Und es hat sich in jeder Hinsicht gelohnt, die Chancen, daß es wieder Jahre dauern wird, bis ich mein zweites Buch dieses Autoren lesen werde, sind relativ gering, insbesondere sein neuestes Werk, "The Dying Animal", interessiert mich schon wegen seines Themas.

Und auch "The Human Stain" scheint zunächst von einem alten Professor zu handeln, der sich eine junge Geliebte aneignet - ein Sujet, wie es auch Nobelpreis-Gewinner J.M. Coetzee in seinem "Disgrace" anschneidet, und bei dem man sich fragt, inwiefern Autoren wie der 1933 geborene Roth hier nicht einfach ihre Phantasien literarisch ausleben. Doch wie der Leser schon sehr schnell entdeckt, ist die Liebe zwischen einem 71jährigen Altphilologen und einer 34jährigen Putzfrau mitnichten das Hauptthema dieses Romans, denn Coleman Silk hat noch ein viel spektakuläreres Geheimnis zu bewahren.

Vieles an "The Human Stain" verweist auf das klassische griechische Drama, angefangen mit dem Zitat aus "Oedipus Rex" am Beginn, dem Namen der Universität Athena oder der zwar nicht griechischen, aber klassischen Aufteilung in fünf Kapitel, doch am offensichtlichsten wird die Parallele zur tragischen Ironie bei Sophokles in der Warnung von Colemans Mutter:

"Now, I could tell you that there is no escape, that all your attempts to escape will only lead you back to where you began. That's what your father would tell you. And there'd be something in Julius Caesar to back him up."

Und die Ironie des Schicksals, die den tragischen Helden dieses Romans schließlich ins Straucheln bringt, ist bemerkenswert, seine Worte werden ihm im Mund umgedreht, und er verliert alles, was er in vielen Jahrzehnten auf einer kleinen Lüge aufgebaut hat. Worum es bei dieser Lüge geht, werde ich hier nicht verraten, denn die Erfahrung beim Lesen, als ich zunächst dachte, ich würde etwas nicht verstehen, will ich nicht wie viele gedankenlose Literaturkritiker versauen. Eigentlich ist dieser Kniff der Geschichte ziemlich konstruiert, aber beim Lesen hat man so gar nicht diesen Eindruck.

"The Human Stain" lebt auch von der Stimme des Erzählers, eines Romanautors, der den Aufstieg und Fall des Coleman Silk zunächst in dessen Auftrag niederschreiben sollte, dessen Buch am Ende aber viel mehr geworden ist. Nachdem man zunächst noch gar nicht genau weiß, wer dieser Ich-Erzähler ist (selbst sein Geschlecht wird lange Zeit nicht aufgeklärt, was durchaus Hand in Hand mit der Geschichte geht), gibt es dann plötzlich Passagen, wo sich die Erzählperspektive unmerklich verschiebt und wir etwa den wilden ramblings des Vietnam-Veteranen Lester Farley oder der verkniffenen Romantik der aus Frankreich stammenden Dozentin Delphine Roux lauschen, zweier Antagonisten, die durch Roths Erzählweise gänzlich ausformulierte Figuren werden, die auch nur Opfer des Schicksals, der Götter oder des Autoren Roth werden.

Wenn wir im zweiten Teil die Jugend Silks miterleben oder die Geschichte nach dessen Tod noch lange weitergeht, weil der Schriftsteller Zuckerman noch lange nicht alle Teile des Puzzles zusammenbekommen hat (und das Buch gewinnt auch dadurch, daß noch Fragen offen bleiben), dann ist es bemerkenswert, wie Roth trotz eines gemächlichen Erzähltempos eine unerträgliche Spannung aufbauen kann, ganz nebenbei erwähnt er schon im Voraus, daß Silk drei Monate später sterben wird; wir ahnen, auf welche Art, aber die Meisterschaft dieses Buches (und darin ähnelt es wirklich "Oedipus Rex" oder Shakespeare-Tragödien) besteht darin, daß man als Leser die gesamte Tragödie miterleben muß (im Sinne von "will"), und selbst, wenn Delphine Roux dann seitenlang darüber nachdenkt, wie sie ihre Kontaktanzeige gestalten will, keine Seite dieses Buches möchte man missen, den Ausflug zu einer Milchfarm, Colemans Box-Philosophie, den traumatisch-witzigen Besuch eines China-Restaurants oder das Gespräch auf einem eingefrorenen See.

Ein Meisterwerk, bei dem ich wirklich gespannt bin, ob das große Geheimnis Colemans überzeugend auf die Leinwand übertragen werden kann, ob ich Schauspielern wie Anthony Hopkins, Nicole Kidman oder Ed Harris das abnehme, was die Figuren des Romans ausmacht …