Das Gehirn als Schriftstück,
als nachtschwarzes Labyrinth
Eingehende Erkundungen zum Essay "Mein schwarzer Schädel" von Aris Fioretos
Teil Eins.
Das Gehirn als Schriftstück
Der 14. Band der von Barbara Richter herausgegebenen Reihe "Spurensicherung" im Berliner Künstlerprogramm des DAAD führt in das Grenzgebiet zwischen Anatomie und Psychologie: "Mein schwarzer Schädel" von Aris Fioretos. In dem Titel des Essays schwingt jedoch nicht nur die Schwärze einer Terra Incognita mit, die es zu kartieren gilt; auch auf den Schädel des Schwarzen wird hier verwiesen.
Wie in seinem 2000 in Deutschland erschienenen Roman "Die Seelensucherin" widmet sich der 43jährige auch in seinem Essay der Erforschung des Gehirns. Er erklärt den Prosaisten zu einem Kranionauten, der sich anschickt, das Schädeldach zu erforschen, welches die Graue Substanz überwölbt; der die dünne Knochenwand durchstößt und ins Schädelinnere eindringt, bis in die geheimsten Windungen des Denkens.
Fioretos verblüfft den Leser nach einer kurzen Ouvertüre mit dem erstaunlichen Satz Willkommen in deinem Gehirn, ein kursiv gesetztes Fanal, das den Essay wie ein Leitmotiv durchzieht. Willkommen in wessen Gehirn? Des Lesers? Des lesenden Ichs? Oder gar in dem des Autors?
So fremdartig diese Grundsatzfragen wirken, so vage bleiben sie im Raum stehen, und in eben dieser Vagheit liegt ihre Suggestivkraft, ihre nachhaltige, nachhallende Wirkung. In einem verdunkelten Raum wohlgemerkt, der fensterlos ist und nur über Türen erreicht werden kann:
"In der grauen Substanz mögen sich die Fenster nach außen öffnen (Panoramafenster für einige; Kellerluken für andere), aber sämtliche Türen gehen nach innen auf. Ein Mensch existiert nur, solange er von seiner Umwelt getrennt ist. Bleibe in deinem Kranium oder gehe unter! Zwar ist in diesen Ossarium nicht sonderlich viel Platz, höchstens ein paar Kubikdezimeter, aber die Dunkelheit kennt dafür keine Grenzen."
Fioretos zeigt das Gehirn keineswegs als wohnliche Heimstätte, sondern als fremden, verdunkelten Ort, den es stets aufs Neue zu illuminieren und zu kartieren gilt. Ein schwerer Gedanke, denn durch ihn drängt sich eine extreme Schlussfolgerung auf: Dass das eigene Gehirn einem nur unwesentlich bekannter ist als das jedes anderen Menschen.
Johnny, der Gehirnmensch
"Mein schwarzer Schädel" ist nicht nur Dialog mit dem eigenen Gehirn, sondern auch Dialog mit den Naturwissenschaften, insbesondere der Anatomie und ihren kuriosen Abweichungen von der biologischen Norm. Eine erlesene Sammlung von Schädeln und Schädelbewohnern füllt und schmückt die Denkräume von Aris Fioretos. Die herausragende Figur in dieser Freakshow ist Johnny, der Protagonist aus Dalton Trumbos Film "Johnny zieht in den Krieg". Der im ersten Weltkrieg schwer verwundete Soldat wird nach einer Minenexplosion in ein Militärkrankenhaus eingeliefert, ihm fehlen nicht nur Arme und Beine, sondern auch Augen, Nase und Mund – er ist blind, taub und stumm zugleich. Eingesperrt in die Dunkelheit seines eigenen Schädels, fristet er fortan das Dasein eines Robinson, der auf der Insel des eigenen Gehirns gestrandet ist.
Die Ärzte erhalten den Unglücklichen am Leben, suchen Antwort auf die Frage, wie lange dieser lebende Torso solch Tortur überdauert. Johnny, der die womöglich extremste Art der Isolation erleidet, bemüht sich, stets das Beste aus seiner Situation zu machen, sucht beständig nach neuen Auswegen aus der Isolation. Er sensibilisiert sich auf Sinnesreize, die Wahrnehmungskanäle benutzen, welche er bislang nur sporadisch zur Welterschließung verwendet hatte: Den Hautsinn etwa, oder den Geruchssinn.
Um seinerseits zu kommunizieren, beginnt er, Morsezeichen zu klopfen, was von den Schwestern allerdings als Schmerzbekundung gedeutet und prompt mit Psychopharmaka beantwortet wird. Er ist ein Sender, dessen Signale niemand richtig zu entschlüsseln weiß, aber dennoch schickt er immer wieder sein Output ins Unbekannte, wie Hilferufe per Flaschenpost. Woran demonstriert wird, dass das Bewusstsein ein System ist, das mit geradezu notorischer Betriebsamkeit irgendwelche Reiz-Reaktions-Muster verarbeiten möchte. Um eine höhere Frequenz zu erreichen, nimmt es lieber Missverständnisse in Kauf, als sich auf einem niedrigerem, dafür aber konstanten Niveau zu bewegen.
Romantik meets Solipsismus
Als Romancier hat sich Fioretos bereits als mit empirischer Präzision arbeitender Exeget der Innerlichkeit zu erkennen gegeben, einer, dem es auf unnachahmliche Weise gelingt, den Bewusstseinsstrom der Wahrnehmung in poetischem Stil auf Papier zu bannen. Als Essayist nun beschreibt und deutet er die Komplikationen, die das Im-eigenen-Schädel-wohnen mit sich bringt – diesmal vom analytischen Hochsitz des Über-Ichs aus beobachtet und nicht aus der Totalen des Romanschreibers.
Diese streng nach innen gewandte Geisteshaltung steht nicht nur der romantischen Idee nahe. ("Ist denn das Weltall nicht in uns?", fragt Novalis). Auch der Solipsismus des 20. Jahrhunderts, wie ihn unter anderem Samuel Beckett in seinem Roman "Der Namenlose" literarisiert hat, findet hier seinen Anklang. Becketts Held Mahood etwa beginnt seine monologisierende Litanei mit drei ebenfalls sonderbaren Fragen, die auch Johnny hätte stellen können:
"Wo nun? Wann nun? Wer nun? Ohne es mich zu fragen. Ich sagen. Ohne es zu glauben. So was Fragen, Hypothesen zu nennen."
Und wie Mahood ringt auch Johnny mit dem Wahnsinn, der hereinzubrechen droht, wo dem Ich das Input fehlt und die Kommunikation nach Außen hin auf ein Minimum abgeschnürt wird, wo alles Denken ausschließlich im eigenen Ich zirkuliert. Johnny lernt Methoden, um sich mit seiner schrecklichen Lage zu arrangieren, etwa indem er versucht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Und das insbesondere mit Hilfe der Erinnerungen, wie Fioretos anmerkt:
"Das einzige, was den Schmerz darüber, "eingesperrt in der Dunkelheit in seinem eigenen Kopf" zu sein, erträglich macht, sind gerade jene Erinnerungen, deren Süße ihn vor Trauer vergehen läßt …"
Die Erinnerungen sind der Anker, mit denen die Seele in der Isolation Halt findet. Erinnerungen, wie sie sonst nur Greise pflegen, die in Folge von körperlicher Schwäche ihren Aktionsradius minimieren müssen und in den Schädel zurückziehen – und immer mehr Wahrnehmungen aus ihrem eigenen Gedächtnis schöpfen, um das entstandene Erlebnis-Vakuum zu füllen.
Was auf Außenstehende wie Nostalgie wirkt, ist in Wahrheit ein drängendes Bedürfnis nach Input. Auch hier ist es die verstreichende Zeit, welche die Unterschiede markiert. Das Erlebte, wenn es erinnert wird, bekommt automatisch eine neue Form. Womit dieses Erinnerungs-Selbstgespräch mit unserem früheren Ich automatisch ein Gespräch mit einem Anderen bedeutet. Oder, mit Fioretos´ Worten:
"Um Kommunikation entstehen zu lassen, bedarf es eines Intervalls – zwischen Eindruck und der Erinnerung an ihn, zwischen ein Bild und sein Abbild."
Der Wille zur Schrift
Fioretos hat den Kriegsveteranen Johnny nicht nur aus strategischen Erwägungen gewählt, obgleich es sich als Paradebeispiel für einen Gehirnmenschen geradezu aufdrängt. Er führt auch ganz persönliche Motive an. Der Autor berichtet, wie er als zwölfjähriger Knabe in Johnny sein alter ego erkannte, und sich aus diesem Gedankenspiel eine Obsession entwickelte. Ja, er entdeckte in ihm das andere Ich, und realisierte im gleichen Moment auch das Rimbaudsche "Ich ist ein anderer".
Dreißig Jahre nach diesem Aha-Erlebnis, und 130 Jahre nach Rimbauds berühmten Zitat, begnügt er sich nicht mehr mit den latenten Schizophrenien von französischen Symbolisten. Und letztlich ist es ohnehin augenfällig: Das Ich von heute muss ja zwangsläufig ein anderes sein als das von gestern! Was Rimbauds Satz eigentlich jegliche Kuriosität nehmen sollte. Und so kommt Fioretos vom alter ego zum "Ich könnte jeder andere sein", was er äußerst genussvoll ausschildert:
"Der senile Mann, der in seinem eingenäßten Krankenhausbett zittert; die Mätresse im Aufzug, ebenso auffällig wie blasiert, unterwegs zum Dachterrassenrestaurant des Kaufhauses; das lachende Kind inmitten seiner farbenfrohen Schaufeln und Förmchen im Sandkasten?"
In dieser generalisierten Austauschbarkeit versucht Fioretos sogar die Motivation zum Schreiben zu lokalisieren. Ein unerwartetes Moment in dem Essay, ein Haken, geschlagen in Richtung multiple Persönlichkeit. Fioretos fragt, ob Schriftsteller schreiben,
" …weil sie erkennen, daß sie jeder beliebige Mensch hätten sein können, tatsächlich jeder einzelne Mensch, der ihnen in ihrem Leben begegnet?"
Als Menschen-Erfinder sind Schriftsteller hinlänglich bekannt. Aber Fioretos wirft indirekt auch noch die Frage vom Körpertausch auf, ähnlich der Vorstellung, die Thomas Mann seinerzeit in "Die vertauschten Köpfe" entwickelt hat. Nur eben mit willkürlichen Tauschpartnern, hier wäre jeder genauso gut wie der andere. Leider lässt er diese Frage – wie noch viele weitere Fragen – offen. Offen wie eine Tür, deren Schloss zwar entriegelt wurde, deren Dahinter aber noch verborgen bleibt. So also steht dem Leser frei, selbst den Versuch zu wagen und durch diese Tür zu treten.
Mit einem taktisch zu nennendem Geschick nutzt Fioretos hierbei die Natur des Essays, das heißt zu tasten, zu schweifen, zu mäandern und zu zirkulieren, er bleibt dem Genre treu, mitunter zum Leidwesen des neugierig werdenden Rezipienten. Er verhält sich methodisch unmethodisch, wie es Adorno in seiner Schrift "Der Essay als Form" trefflich formuliert hat. Er schmiegt sich an die gelassene Art des Denkens an, wie sie typisch ist für so viele Sonntagnachmittage. Denn der Essay verlangt nicht die stringente Logik des Wochentages, sondern provoziert vielmehr kreisende Bewegungen – womit er eher einem Reigentanz um ein zentrales Motiv ähnelt, als dem Bogenschuss in die Mitte der Zielscheibe.
Teil 2.
Das Gehirn als nachtschwarzes Labyrinth
Das Bild von Theseus, der mit dem Zwirn ins Labyrinth des menschlichen Gehirns hinabsteigt, ist eines der zentralen Motive in "Mein schwarzer Schädel". Nur ist Theseus hier kein attischer Erbprinz, der den Minotauros töten und den feindlichen Stadtstaat von Knossos unterwerfen will, sondern ein Erforscher, der in das "Bergwerk der Seele" hinabsteigt – um neue Bodenschätze zu finden.
Was aber ist aus dem Minotauros geworden? Lauert unter unserer Hirnschale auch solch ein stierköpfiges Monstrum, das besiegt werden muss? Oder ist die Bestie gar zahm geworden? Das Böse, insbesondere die Hölle als Hauptquartier allen Schreckens, spielt für Fioretos nur eine nachgeordnete Rolle:
"Heute ist es so gut wie unmöglich, die Hölle noch ernst zu nehmen, zumindest in der Literatur. Das haben wir den Diktatoren, Provinzdespoten und Lagerkommandanten zu verdanken, die das Böse zu ihrer Sache gemacht haben. Sie lassen Luzifer aussehen wie einen gepuderten Zauberer in irgendeinem patinierten Spielfilm …"
Aber sofern der Minotauros inzwischen ein sandkastentauglicher Spielkamerad und die Hölle längst ein Dokumentationszentrum für Tagestouristen geworden ist – woraus besteht dann eigentlich die Gefahr, die Fioretos voraussetzt, wenn er seinen Theseus im Gehirnlabyrinth noch vor dem Erreichen der eigentlichen Abenteuerzone einbremst:
"Früher als er ahnt, kann das Knäuel aufgebraucht sein, und dann steht er da, das Ende in seiner Hand ( …) Ganz leicht zieht er vielleicht am Faden, wider besseres Wissen, noch voller Hoffnung, aber es nützt nichts. Der Zwirn ist bereits arg gespannt, und wenn er noch fester zieht, wird er reißen."
Doch der Kranionaut kämpft nicht nur mit der Länge des Fadens, sondern auch mit einem zweiten, weit größerem Hindernis: Der Dunkelheit. Man könnte sogar spekulieren, diese alles einschwärzende Tinte sei ihrerseits ein Sinnbild der Bestie. Weshalb Theseus, der Forscher und Kranionaut, neben Ariadnes Wollknäuel auch noch ausreichend Licht benötigt, um seine Forschungen zum erfolgreichen Ende zu führen. Und hierfür hat Fioretos eine völlig ausgefallene, fast perverse Lösung parat:
"Wäre er doch nur mit einem zusätzlichen Kopf als Stirnlampe ausgerüstet – wie Pasqual Pinon!"
Licht, Finsternis
Pasqual Pinon wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Mexiko geboren und trug einen zweiten Schädel mitten auf der Stirn, eine Fehlbildung, die ihn bald international bekannt machte. Ein Doppelkopf, ein Janusgesichtiger. Pinon war einer, dem es womöglich gestattet war, in den Dialog mit dem eigenen, anderen Ich treten zu dürfen. Von innen. Denn verständliche Worte artikulieren konnte der zweite Kopf nicht.
Diese Pinonsche Stirnlampe nun, die das verdunkelte Labyrinth erhellen soll, ruft einen anderen Denker auf den Plan, oder gar zur Hilfe: Friedrich Nietzsche. Obgleich Fioretos den deutschen Denker in seinem Essay nicht namentlich erwähnt, Thema und Methode ähneln sich. Auch Fioretos könnte man die Frage stellen, die Friedrich Nietzsche seinerzeit immer wieder zu hören bekam: Warum er der Welt ein klar definiertes "System" vorenthielte, und damit dem Leser eine bessere Orientierung in seiner so komplexen Gedankenwelt. Worauf der Philosoph in der ihm üblichen, polemisierenden Art antwortete: "Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit". Nietzsche tat sich immer wieder als Essayist hervor, weshalb Adorno ihn auch in "Der Essay als Form" gerne als Beispiel anführt. Kurzum, Nietzsches unsystematisches System hat bis heute die Gelehrten entweder fasziniert oder provoziert.
Aber Nietzsche war nicht nur ein Essayist, sondern auch ein Kranionaut ganz im Fioretos´schen Sinne, zeit Lebens hat er immer neue Probebohrungen im eigenen Denken veranstaltet. Unablässig, um ihrer selbst willen, aus einer unstillbaren Neugier heraus. Auch Nietzsche suchte das Licht, um das Dunkel seiner Zeit und seines eigenen Denkens ausleuchten zu können. Er verstand die Rolle des Philosophen als Stern, als Erleuchteter, der das empfangene Licht weiterstrahlt; in seinen späteren Schriften beschrieb er sich sogar als Erleuchter und verglich sich in überaus konzilianter Manier mit der Sonne. Und sein Prophet Zarathustra beschwor den "Großen Mittag", jenen Moment, wenn die Sonne im Zenit steht und nirgendwo einen Schatten zulässt.
Während der Kranionaut Nietzsche in die finstersten Regionen des menschlichen Denkens vordrang, ohne sich mit einem Faden der Ariadne abzusichern, zeigt sich Fioretos weit vorsichtiger, sowohl mit den intellektuellen Expeditionen, als auch mit den Worten und Thesen selbst, welche letztlich als Logbuch, als Fahrtenschreiber des Kranionauten manifest geworden sind. Fioretos beklagt immer wieder die Begrenztheit des Radius, den der Faden dem Gehirngänger zugesteht. Ist das Knäuel abgerollt, muss auch die Erkundung enden, wie ein Forschungsschiff, dem auf halber Strecke der Treibstoff ausgeht:
"War das alles? Einige nervös kolorierte Schnappschüsse von der Innenseite des Schädels?"
Denken als zeitloses Labyrinth
Nietzsche hingegen kappte die symbolische Nabelschnur, ungeachtet der etwaigen Folgen. Seine einzige Ressource, aber auch die einzige Autorität blieb die eigene Physis. Letztendlich – und dies ist ein tragischer, möglicherweise aber auch zwingender Moment in der angewandten Kraniologie – ging er in den komplexen Windungen seines eigenen Schädels verloren. Das Licht, das er suchte, erlosch, und der Terminus der "geistigen Umnachtung" illustriert die Schwärze dieses ausgebrannten Sterns trefflich.
Und folgt man der These von Rüdiger Safranski, dann hat er diesen dunklen Ort bis heute nicht verlassen:
"Denn Nietzsche versteckt sich im Labyrinth seiner Gedanken,'er möchte entdeckt werden, aber auf langen, windungsreichen Wegen', wobei ihm wohl am wichtigsten ist, daß man eigene Gedanken, das Denken überhaupt entdeckt, denn das 'eigene Denken ist die Ariadne, zu der man zurückfinden soll'."
Ohne Zweifel eine gefällige These. Sie zeigt das Bild eines Nietzsche, der als unsterblicher Titan des Denkens in seinen Büchern weiterlebt – und scheint wie gemacht zu sein für professionelle Skeptiker, die den Bildungsbürgern ringsum stets eine zu leichtherzige Gesinnung unterstellen, da diese sich damit bescheiden, an der Oberfläche zu bleiben und lieber offensichtliche Trivialitäten zu großen Wahrheiten erklären.
Andererseits, wem außer den Berufspessimisten kann solch eine nietzscheanische Irrgängerei etwas nützen? Kann diese Art von Selbsterforschung produktiv sein, wenn man ihr, ohne mit einem Faden gesichert, nachgibt, oder muss sie irgendwann ins pathologische Dauergrübeln abrutschen? Ist das in unbekannte Tiefen vordringen wollende Denken ähnlich unsinnig, wie die Expeditionen der Polarforscher, den Nord- oder Südpol zu erreichen, unter Einsatz des eigenen Lebens, nur um eine Fahne in eine letztlich x-beliebige Scholle Eis zu pflanzen?
Ariadne oder die Liebe im Geiste
Man kann den Theseus-Mythos allerdings auch gänzlich anders fassen: Als Versuch einer Liebe, die zu eng wird. Der Erbprinz Theseus nämlich hat seine Ariadne nach dem Abenteuer mit dem Minotauros nach Athen heimführen wollen, aber sich dann während eines Zwischenstopps auf der Insel Naxos urplötzlich umentschlossen und selbige dort zurückgelassen. Kappt hier einer den Faden, weil ihm das Liebesband zu eng geworden ist?
Die verlassene Ariadne indessen verfällt auf Naxos dem Dionysos, womit als profane Deutung die Liebe zum Alkohol gemeint sein kann. Aber man darf es auch auf der mythischen Dimension belassen – und kommt damit unmittelbar auf Nietzsche zurück. Der nämlich hat in der "Klage der Ariadne" seine Muse und heimliche Liebe Cosima Wagner ein letztes Mal angerufen, signifikanterweise kurz vor seinem endgültigen Zusammenbruch. Eingangs klagt die Verlassene in ausgiebigem Pathos über ihr Los der Einsamkeit, des Nichtgeliebtwerdens, beschreibt sich selbst bald als
"Hingestreckt, schaudernd,
Halbtotem gleich, dem man die Füße wärmt,
geschüttelt ach! von unbekannten Fiebern,
zitternd vor spitzen eisigen Frostpfeilen,
von dir gejagt, Gedanke!",
fühlt sich bedrängt von einem unbekannten Gott oder einer Idee, einem fixen Gedanken. Wehrt sich und sehnt sich – ein Stück Beute, das paradoxerweise nach dem Pfeil des Jägers lechzt, wie ein tödlich Verwundeter den Gnadenschuss erfleht. Alles ist besser, als Qualen erleiden zu müssen.
"Weg! Weg!
wozu die Leiter?
willst du hinein,
ins Herz, einsteigen,
in meine heimlichsten
Gedanken einsteigen?"
Herz und Gedanke, diese so oft als Antagonismen verwendeten Begriffe erscheinen hier einträchtig nebeneinander als Synonym für das Labyrinth. Und es bleibt nicht bei diesen beiden Zuschreibungen.
Am Ende des Poems (bzw. Dithyrambus, wie Nietzsche es bezeichnet), als sich Dionysos vor seiner Adeptin in "smaragdener Schönheit" materialisiert, hält der Gott eine wohlmeinende Ermahnung für die Klagende parat:
"Sei klug, Ariadne! …
Du hast kleine Ohren, du hast meine Ohren:
Steck ein kluges Wort hinein! – 4
Muss man sich nicht erst hassen, wenn man sich lieben soll? …
ICH BIN DEIN LABYRINTH …"
Dionysos, Ariadne, Herz, Gedanke, Liebe Hass, Autor und Wort, alle diese Figuren, Emotionen, Begriffe verschmelzen zu einer Einheit, zu dem alles Dasein definierenden Labyrinth. Und es ist just der Schlusssatz in Nietzsches Gedicht, "Ich bin dein Labyrinth", der geradezu spiegelverkehrt erscheint zu dem kursiven, leitmotivischen Satz von Fioretos in "Mein schwarzer Schädel": Willkommen in deinem Gehirn!
Liebe denken
Mittels der Janusköpfe, wie jener Pasqual Pinon einer war, kommt auch Aris Fioretos auf das womöglich zentralste Thema von Literatur überhaupt zu sprechen: Die Liebe. Nur dass sie bei Wesen, die wie siamesische Zwillinge Hirn an Hirn leben, auf eine ganz besondere Art ausgeprägt sein muss.
Wo die Körper fehlen, weil hier die Biologie fälschlicherweise gleich zwei Schädel nebeneinander sprießen ließ, müssen die Gehirne selbst zu Körpern werden, die sich umschlingen; lieben. Eine Liebe bizarrster Dimension, in der Trennung und Einsamkeit nicht möglich sind und Intimität ein Dauerzustand ist – von solch symbiotischer Natur, dass sie eines Tages in einen Doppeltod führen muss. Pasqual und seine Maria (denn das Stirnlampen-Gesicht wird kurioserweise als weiblich identifiziert) sind letztlich eine Variante der klassischen Liebestragödien, nur ist hier das Drama von Romeo und Julia oder Tristan und Isolde in rein biologistischer Spielart inszeniert worden.
Fioretos fasst diesen Doppeltod wie folgt zusammen:
"Als er am Sonntag, den 23. April 1933 stirbt, überlebt Maria ihn um acht Minuten. Der Krankengeschichte in Enquists Buch zufolge bewegen sich ihre Lippen und ihre Augen drücken einen ungeheuren Schmerz aus. Was für ein Lied mag sie gesungen haben? Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie allein. Acht Minuten ohne Deuter."
Wo Fioretos die Deutung schuldig bleibt beziehungsweise bleiben will, da hier das Terrain bloßer Mutmaßungen erreicht wird, geht Reinhold Grether weit unbefangener vor. In seinem Aufsatz zur "Weltkultur" interpretiert er diese acht Minuten auf sehr sinnfällige Weise:
"Acht Minuten, Zeit des alleinleuchtenden Mondes, alsdenn die Sonne schon ausgeglüht ist."
Nachtgedanken
Womit wir erneut bei den beiden wichtigsten Protagonisten in "Mein schwarzer Schädel" angelangt wären: Das Licht, die Finsternis. Kaum ein anderes Antagonistenpaar hat es Fioretos so angetan. Er scheidet seine Denkwelt vornehmlich in Licht und Finsternis, in Schwarz und Weiß, so als wolle er die Genesis nachvollziehen, wo der Schöpfer direkt nach der Trennung von Oben und Unten (Himmel und Erde) als zweite Koordinate die von Hell und Dunkel (Tag und Nacht) justierte.
Obgleich sich bei der Lektüre der Eindruck aufdrängt, Fioretos sympathisiere eher mit der Finsternis als mit dem Licht, denn allzu oft behält die Nacht im Widerstreit der Elemente das letzte Wort. Die Schwärze des Schädels, die Schwärze der Nacht, oder die Dunkelheit Stockholms in seinem Roman "Die Seelensucherin", der im Original mit "Stockholm Noir" betitelt ist.
Warum eigentlich? Diese Frage vermag selbst der in die völlige Finsternis geworfene Johnny nicht beantworten, der sich zu einer fixen Idee im Denken des noch kindlichen Autoren-Ichs entwickelt hatte. Was macht die Dunkelheit so magisch? Weil sie Bedeutungen verschluckt und immerneue Deutungen provoziert? Weil sie die Mutter der Gedanken ist, wie ein Sprichwort der Holländer zu bedenken gibt? Oder gilt die andere These: Dass sie der Feind ist, der besiegt werden muss, obwohl das niemals gelingen kann?
Fioretos bezieht sich auf einige Autoren, die schon vor ihm das Verhältnis von Nacht und Gehirn zu ergründen versucht hatten, mitunter sogar mit Hilfe von Drogen: Baudelaire, Rimbaud, de Quincey. In diese Reihe passen könnte auch Robert Musil, der in seinem jugendlichen Prosastück "Blätter aus dem Nachtbuche des monsieur le vivisecteur" eine ganz besondere Ode an die Nacht verfasst hat:
"Nachtbuch! Ich liebe die Nacht, weil sie schleierlos ist, bei Tage werden die Nerven dahin und dorthin gezerrt bis zum Erblinden, aber die Nacht ist es, in der gewisse Raubthiere mit gewissen würgenden Griffen sich einem um den Hals legen, wo sich das Leben der Nerven aus der Betäubung des Tages erholt und nach Innen entfaltet, wo man eine neue Empfindung von sich selbst bekommt, wie wenn man plötzlich mit einer Kerze in der Hand in einem dunklen Zimmer vor den Spiegel tritt, der tagelang kein Lichtstrahl empfangen hat, und gierig aufsaugend einem nun das eigene Gesicht entgegenhält."
Das, was der zwanzigjährige Musil im folgenden von seinem investigativen Vorhaben der Seelenkunde schreibt, nämlich
"monsieur le vivisecteur :- ich!
Mein Leben ---- Die Abenteuer und Irrfahrten eines seelischen Vivisectors zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts!
Was ist m.l.v.? Vielleicht der Typus des kommenden Gehirnmenschen – vielleicht? …",
findet hundert Jahre später bei Aris Fioretos seinen Widerhall. Nur schreiben wir inzwischen das 21. Jahrhundert, und ein Gegenwartsautor kann die Dimension der Seele sachlich nüchterner bearbeiten. Fioretos nutzt die inzwischen bestens dokumentierte Geschichte der Psychologie mit ihren reichhaltigen Sekundärschriften, während Musil seinerzeit noch überwiegend auf die eigenen Beobachtungen zurückgreifen musste.
Insbesondere in "Die Seelensucherin" kommt eine forschungshistorisch unterfütterte Psychologiereflexion deutlich zur Entfaltung. Professor Schaumburg, der Psychiater und "Seelenbiologe", wird als Koryphäe seiner Zeit geschildert, mit den üblichen Höhen und Tiefen von genialischen Eingebungen bis zu eher diabolischen Versuchsreihen; er endet in einem Größenwahn à la Wilhelm Reich. Der Roman verweist auf den letzten Seiten nicht nur auf ein Traktatus namens "Mein schwarzer Schädel", sondern endet auch mit einem Gedicht, das Schlüssel zum Fioretos´schen Schaffen sein dürfte:
"Ein grauer Gesang, dem Hirn entsprungen,
als unser Gral stellt er sich dar.
Schwarz ist der Schädel, in dem er gesungen,
der Gedanke aber weiß, der Ton glänzend klar."
In der Grauzone
Und wenn am Ende noch ein letztes poetisches Bild erlaubt ist: Es sind die weißen Gedankenfäden, die Fioretos durch den schwarzen Schädel spannt, die das Bewusstsein aus dem Unbewussten leuchtend herausheben. Mit jedem weiteren Wort durchwebt er das Schädelinnere, durchnetzt es, und schafft ein schwarzweißes Geflecht, das mit zunehmender Komplexität eine Mischfärbung annimmt: Die Graue Substanz.
Auf eben diesen Grauton muss alles hinauslaufen, das muss sich auch Aris Fioretos eingestehen, selbst wenn er sich nur ungern damit zufrieden gibt. Der zwölfjährige Autor-in-spe wird mit den folgenden Worten zitiert:
"In seinem Inneren breitete sich die Dunkelheit aus, außerhalb von ihm war Licht. Manchmal konnte die Finsternis überwältigend werden, aber manchmal war das Licht ebenfalls schwer zu ertragen. Es galt, das Gleichgewicht zu finden, will sagen die Grautöne, und sich in der Grenzregion aufzuhalten."
Die Lust am Grenzgängertum aber hat er bis heute nicht verloren. Fioretos ist einer, der vorangeht und erkundet, und der anschließend seine mit dem Fahrtenschreiber aufgezeichneten Reisedaten der Öffentlichkeit zur kritischen Auswertung vorlegt. Er schließt sein Werk aber nicht, ohne auf seinen Leser, Nachgänger, Spurensicherer oder gar Verfolger zu rekurrieren. Schlüpft aus der eigenen Haut, und mischt sich als zweite Hülle schon unter seine Leser, als habe er selbst nichts (mehr) damit zu tun. Das Werk, das er verfasst hat, die Reise, die er unternommen hat, hat ihn zu einem Anderen gemacht. Hat auch das Werk, das Buch, die Reise zu etwas eigenem, anderen gemacht.
Hat ihn sozusagen aus dem eigenen Gedankengebäude vertrieben. Kein Paradies aber, das beweint werden müsste. Eine logische Konsequenz vielmehr: Die Fertigstellung des Textes macht den Autor zum Fremden. Und das Spiel vom "Wer ist Ich, wer ist Du", beginnt von Neuem.