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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



Februar 2004
Marc Degens
für satt.org

Henrik Hieronimus:
Morgens an irgendeinem Tag

Jung und Jung, Salzburg / Wien 2003

Henrik Hieronimus: Morgens an irgendeinem Tag

116 S., geb.
16,00 EUR
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Henrik Hieronimus:
Morgens an irgendeinem Tag



Literatur hat mit dem Leben normalerweise wenig gemein. Nicht so in dem fabelhaften Erzählungsband "Morgens an irgendeinem Tag" von Henrik Hieronimus. In den fünfundzwanzig kurzen Erzählungen hat die gewöhnliche, alltägliche Wirklichkeit anscheinend selbst zum Stift gegriffen und frank und frei drauflos geplottet - ganz zu Recht trägt das Buch den Untertitel "Geschichten vom Leben". Doch entstanden sind keine Bottroper Protokolle oder Reportagen aus der Arbeitswelt, denn eine weitere Kraft war maßgeblich an der Entstehung der Texte beteiligt – die Kunst. Und die sprachliche Klasse, die stilistische Güte und literarische Reife der entstandenen Prosa ist angesichts der Jugend des Autors schier unglaublich.

"Die Baustelle lag am Rande eines Industriegebietes, nahe der Städtischen Müllhalde. Den ganzen Tag über stank es fürchterlich nach organischem Unrat, der vor sich hin faulte. Am Ring herrschte reger Verkehr. Laster donnerten über den Asphalt und irre Autos hinter ihnen her. Der Parkplatz vor der Fabrik, an der wir die Außenanlagen erneuerten, füllte sich. Die Arbeiter gingen in die Hallen. Männer und Frauen in adretter Kleidung verschwanden in den Büros auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Lichter gingen an, und man konnte beobachten, wie sie den ersten Kaffee aufsetzten und plauderten." Cherobini, der Ich-Erzähler des Buches, ist Straßenbauarbeiter. Er lebt in einer westfälischen Kleinstadt, pflastert Bürgersteige, er trinkt mittags mit seinen deutschen und polnischen und sonstwoher stammenden Kollegen schon Bier und lacht über deren flaue Witze. Cherobini ist der in der Mittagsglut am Straßenrand mit freiem Oberkörper und feistem Sonnenbrand auf den Schultern schuftende Malocher, der von den vorbeieilenden Menschen meist gar nicht wahrgenommen wird. Er ist jung und schlau und grübelt oft darüber nach, warum es ihn auf den Bau verschlagen hat. Eine Antwort weiß er allerdings nicht. Das aber haut ihn nicht um, und Cherobini ist meilenweit davon entfernt, sich zu beklagen oder zu bemitleiden. Ebensowenig neigt er dazu, sich und seine Lage zu idealisieren. Viel lieber schaut der junge Realist nach vorn, schmiedet Pläne und setzt sie Schritt für Schritt in die Tat um. Eines Tages will er Friedhofsgärtner werden: "Ich würde dreihundert Piepen weniger bekommen als bisher. Aber ich wusste, der Job bedeutete auch: keine Überstunden, ein fettes Weihnachtsgeld und bei Schlechtwetter in der Kapelle Weinbrand saufen."

Obwohl es sich bei den in dem Buch abgedruckten Erzählungen um abgeschlossene Kurzgeschichten handelt, hat das Werk etwas sehr – im modernen Sinne – Romanhaftes an sich. Viele Sätze und Bemerkungen weisen so über die eigentliche Handlung hinaus: Hat Cherobini eine Freundin? Ist er immer noch mit ihr zusammen? War das Bewerbungsgespräch erfolgreich? Diese Seitenblicke tragen wesentlich zu der festen und geschlossenen Form des Buches bei. Zugleich offenbaren sie, daß Cherobini kein Gescheiterter ist, der nach Feierabend säuft, kifft und die Musik laut aufdreht, um zu vergessen; sondern der säuft, kifft und die Musik laut aufdreht, weil er saufen, kiffen und laut Musik hören will. Aus Genuß und Begeisterung, nicht zum ab-, sondern einschalten! Und wer viel arbeitet, muß auch viel essen. Auffallend oft wird in den Erzählungen nebenher noch gekocht und gebrutzelt: Ein Fisch entnommen, ein Ei in die Pfanne geschlagen, Salbei und Rosmarin gepflückt … In diesen Momenten tritt die Zufriedenheit, von der Cherobini zehrt und die ihn stärkt, deutlich zutage. Es ist vielleicht nicht Glück, diesen Ausdruck fände Cherobini sicherlich zu abstrakt, aber ein wohltuendes Gefühl aus Zuversicht, Selbstvertrauen und Befriedigung.

In dem Buch durchlebt Cherobini keine Höhen und Tiefen, das bedeutet aber nicht, daß er ein flacher Charakter ist – oder der Autor keine Spannung und Dramatik erzeugen kann. Denn es wäre so leicht gewesen, Cherobini zum Opfer der Umstände zu stilisieren oder ihn mit einem Zuckerguß Sozialkitsch und Kleinbürgereridylle zu überziehen. Hieronismus wollte auch nicht die Wochenenden, die Konzertbesuche, die Sauftouren, den Sex und den Beziehungsstreß abbilden, sein Thema ist das unaufgeregte, normale, alltägliche Dasein – und die Kraft und der Antrieb, die einen Menschen hindurch schleusen. Die Fahrt zur Arbeit, einkaufen gehen, Flohmarktbesuche … In gewisser Weise ist es sogar egal, ob man auf Steine oder Computertastaturen haut, Verbrecher jagt oder Kinder unterrichtet … denn meist erscheinen die Tätigkeiten zugleich sinnlos und notwendig. Ob der Schutthaufen nun da oder dort liegt, interessiert Cherobini natürlich nicht im geringsten … trotzdem bewegt er ihn. That’s life!

Die Erzählungen sind stilistisch äußerst elegant. Die Sprache ist klar, präzise und nüchtern, trotzdem scheut der Autor nicht den Einsatz starker Worte, umgangssprachlicher Wendungen und übermütiger Bilder. Das macht das Buch so lebendig: "Als Klaus’ Frau ihr Kind zur Welt brachte, nahm er die Plazenta mit nach Hause, vergrub sie im Garten und pflanzte einen Walnußbaum drauf. Baumpflanzen sei so üblich, Familientradition. Aus Klaus’ Nachgeburt sei mittlerweile eine staatliche Eiche geworden, die das Terrassenpflaster mit ihren Wurzeln hoch drücke." Auch der Aufbau der Erzählungen ist mustergültig und kunstvoll. Fast immer gelingt es Hieronimus, das Interesse rasch und aufdringlich auf das unerhörte Geschehen, die winzige Beobachtung oder das bewegende Schicksal zu fokussieren, den Gegenstand zu umkreisen und am Ende dann wieder auf die Totale überzuschwenken und abzublenden. Dadurch entsteht der Eindruck, als ob die Geschichten keinen Anfang und kein Ende hätten, und ein starker erzählerischer Sog.

Der Autor ist vielleicht ein Frühvollendeter. Hieronimus wurde 1979 im Ruhrgebiet geboren, machte eine Lehre, lebt jetzt in Borken und arbeitet im Straßenbau. Das Buch trägt also deutlich autobiographische Züge, was man angesichts der literarischen Klasse kaum glauben mag. Eventuell ist "Morgens an irgendeinem Tag" aber bloß ein Gesellenstück – in diesem Fall kann man von Henrik Hieronimus eines Tages sogar Meisterwerke erwarten. Bis dahin lese man dieses wunderschöne, poetische und lebensbejahende Buch.