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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



März 2004
Patrick Baumgärtel
für satt.org

Franziska Gerstenberg:
Wie viel Vögel

Schöffling & Co., Frankfurt / Main 2004

Franziska Gerstenberg: Wie viel Vögel

232 S., geb.
18,90 EUR
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Simple Stories.

Von der Allgegenwart des Alltags. Wie viel Vögel, der Debüt-Erzählungsband der Leipzigerin Franziska Gerstenberg.



"Du wolltest doch immer nach Amsterdam." Die jungen Menschen in Franziska Gerstenbergs Erzählungen befinden sich in Ferienhäusern, Wildparks, Autobahnmotels, Schwimmbädern, Suppenküchen, Billardkneipen oder auf Zeltplätzen. Sie trinken Fanta Grapefruit, grünen Tee, Spezi, Wein, Kaffee Coretto und auch mal Caipirinha. Sie essen mittags Kartoffelbrei mit Leber, Zwieback mit Marmelade, Toast mit Schinken und Ei zum Frühstück. Sie reisen, feiern, tanzen, gehen ins Kino oder in die Schule. Bundesdeutscher Alltag also, wie es im Klappentext heißt. Nur ganz nebenbei sind sie ein bißchen unglücklich. Manchmal bemerken sie das sogar. Sehnsüchte gibt es, ja. Hoffnungen, ja. Verlangen, ja. Was der Unterschied zwischen Hoffnung und Zuversicht sei? Doch da wird der Kaffee oft schon kalt. "Sie glaubt noch an den ersten Blick, immer noch", heißt es in einer Erzählung. Der so Geliebte, zwanzigjährig und Sohn russischer Einwanderer, nimmt sie bei ihrer ersten Verabredung mit nach Hause zu den Eltern. Dort essen sie Borschtsch und blättern die Fotoalben der Eltern durch, stoßen mit Wodka auf deren Hochzeit an. Sie werde sicher auch eine schöne Braut sein. So kreuzen sich die Wege der Protagonisten in ihren Lebensträumen. Meistens sind es die Ich-Erzähler, die, sensibel und gefährdet, mit ihrem Wunsch nach Liebe allein bleiben. Dann denkt man eben daran, sich einen Hund zu kaufen und verführt von Zeit zu Zeit einen Handwerker. Die Eltern sind zerstritten, getrennt oder einfach zu weit weg, die Beziehungen der Kinder fast zwangsläufig zum Scheitern verteilt. Verständigung unmöglich, wie Thomas Bernhard sagen würde. Man versucht zu retten, was nicht zu retten ist. Wenn es denn einmal zarte Hoffnungen auf Annäherung gibt, werden sie von der Außenwelt zerstört, wie in der vielleicht außergewöhnlichsten Erzählung, Glückskekse, wo die Besucherin des Ferienbauernhofes sich in die Tochter des Bauern verliebt. Mit bitter-leichter Komik wird diese von außen aussichtslose und aus der Perspektive der ineinander Verliebten so glückverheißende Beziehung beschrieben. "Mir ist heiß, sagte sie, meine Zähne sind taub und pochen, bedeutet das, dass ich verliebt bin? Marianna, sagte ich, halte den Mund." Der Vater von Marianna wird ihr zum Außerirdischen, der die Lebensgewohnheiten junger Frauen studieren will. "Es gebe nichts auf der Welt, was ihr fremder sei als ihr Vater." Auf ironisch-traurige Weise folgt dem Fall des World Trade Center am 11. September 2001 auch das Ende des zerbrechlichen Glücks der Mädchen. Der Terrorist ist hier der Vater. Was danach übrig bleibt, ist Alltag. Der wird auf so bedrückend klare und präzise Weise beschrieben, dass man meint, die Autorin befürchte den Verlust der Dingwelt. Dabei drückt sich jedoch nur das aus, was eben fehlt. Hier liegt der Unterschied zur westdeutschen Lifestyle- und Popliteratur. Bei Gerstenberg ist die Oberfläche in romantischer Tradition durchweg negativ konnotiert, als ständige Erinnerung an die Abwesenheit von Sinn.

Geschlecht spielt selten eine Rolle. Erzählt wird aus weiblicher oder männlicher Perspektive, oft hat das durchaus androgynen Charakter. Geliebt wird ebenfalls in alle Richtungen. Oft sind die Frauen diejenigen, die dem Leben in den Nacken beißen wollen, die Männer die Zögerlichen, Abwartenden, Anspruchslosen. Das Sexuelle ist keine Domäne des Männlichen: "Man kann nicht einfach mit ihm schlafen, denkt sie, bei Konz muss alles etwas bedeuten."

Freilich sind dies junge Geschichten. Franziska Gerstenberg ist 1979 in Dresden geboren, hat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert und war Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift Edit. Einige Erzählungen erschienen schon in Anthologien und Zeitschriften. In Aufbau und Thematischem ähneln sie sich zuweilen. Das Entscheidende ist jedoch, dass sich hier eine eigenständige, neue Stimme Gehör verschafft. Franziska Gerstenberg ist eine erfahrene Beobachterin und genaue und bewusste Erzählerin. Nicht sehr oft erzählt einer so gekonnt, so beklemmend und so dicht von der banalen Spannung unseres Lebens. Mit ruhiger, ernster und dabei scheinbar leichter Hand ist ihr hier ein erstaunliches Debüt geglückt.