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März 2004
Anne Kathrin Hahn
für satt.org

Claudia Rusch:
Meine freie deutsche Jugend

S. Fischer 2003

Claudia Rusch: Meine freie deutsche Jugend

157 S., 14,90 EUR
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Gleiche unter Gleichungen

Die besonders freie Jugend der Claudia Rusch



Ich habe die Entscheidung meiner Eltern, in der Opposition zu leben, nicht mitgetroffen. Ich war ihr ausgeliefert. Heute bin ich ihnen dankbar dafür. Sie haben mich damit privilegiert …


So beschreibt Claudia Rusch, Jahrgang 1971, in ihrem Erzählungsband "Meine freie deutsche Jugend" die Vorraussetzungen ihres Daseins als Kind der DDR.

Eine Kindheit unter Dissidenten, Oppositionellen und Andersdenkenden. War sie aufregender als die Kinderjahre anderer? Gewiss, der Nachwuchs des Durchschnitts-DDR-Bürgers kannte Wanzen nur aus den Gruselmärchen der Großmütter, die von dunklen Kriegstagen berichteten – und nicht als winzige Abhöranlagen der Sicherheitsorgane. Auch die Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" trugen selten Kinder einer vierten Klasse (wie Claudia Rusch), sondern frühestens abgebrühte Fünfzehnjährige aus der Raucherecke des Schulhofs …

Doch diese Privilegien, wie die Autorin es nennt, haben sie keineswegs abgehoben. Ohne Larmoyanz und Besserwisserei beschreibt eine junge Frau, wie sie ihre eigene Wirklichkeit wahrnahm. Leise und nachdenklich. Sie war anders. Richtig wohl fühlte sie sich im Sommerlager der Mathematischen Schülergesellschaft der Humboldt-Universität, einer Sommerfrische für hochbegabte Außenseiter. Rusch beschreibt sich und die anderen Zwölfjährigen als "Klugscheißer beim Erwachsenwerden". Und "endlich hatte ich Kinder gefunden, die so waren wie ich." Um selbst eine ausgewachsene Dissidentin zu werden, war die Autorin zu jung.

Die wahrscheinlich glücklichste Fügung meines Lebens bestand in der Gleichzeitigkeit meines Schulabschlusses und dem Ende der DDR … Die Welt öffnete sich mit all ihren Möglichkeiten in dem Moment, als ich amtlich erwachsen wurde. Was für ein timing. Hollywoodreif.


Was danach kommt, ist den Biografien ihrer Generation vergleichbar: das Staunen über die Weite der Welt, das Herantasten an die neuen Tabus. DDR-Jugendliche baden zum Beispiel nackt im Mittelmeer und wundern sich, dass sich die anderen wundern.

Was einzigartig bleibt, an dieser sanften und bunten Erzählwelt der Claudia Rusch, ist die Selbstironie, verbunden mit ihrem scheinbar kindlichem Blick, der uns auf weiteres Erzählen der Autorin hoffen lässt. Die Zeitlosigkeit ihrer Prosa, die dennoch konkret verwurzelt ist, singt aus frühen Tiefen, ist müheloses Sein und Fließen.

Als mein Vater eingeschult wurde, fragte die Lehrerin ihn nach seinem Berufswunsch. Er sah sie aus seinen veilchenblauen Augen an und antwortete: 'Rentner'.