Stürmisch ist die Nacht
Kind im Grab erwacht
seine schwache Kraft
es zusammenrafft
"machet auf geschwind!"
Ruft das arme Kind
Sieht sich ängstlich um:
Finster ist’s und stumm …
Vor wenigen Tagen widmete eine überregionale Zeitung unseres Landes nahezu eine ganze Seite ihres Feuilletons der "Königin der ungewollten Komik". Gemeint war die Dichterin Friedericke Kempner, die vor genau hundert Jahren das Zeitliche segnete und sich seinerzeit außerordentlich um das Wohl von Scheintoten besorgte und darob derart schaurige Balladen verfasste.
Torsten Schulz lässt den Jungen Holger dieses Gedicht in seinem Debüt-Roman "Boxhagener Platz" vortragen. Seine betagte Zuhörerin ist schwer beeindruckt. "So ´n schönet Jedicht. Sowat Trautiget. Nee, also sowat Schönes, Trauriget. Wat haben die armen Menschen damals ooch allet so erleben müssen. Mein Jott, mein Jott. Nee aber ooch."
Soweit Oma Otti, denn bei der Ergriffenen handelt es sich um die Großmutter des halbwüchsigen Knaben, die jenes Schriftstück von einem Verehrer zugeeignet bekam.
Vor dem Lebendigbegrabenwerden brauchen wir uns nicht mehr fürchten. Oma Otti aber, die im Roman einen breiten, wenn nicht den größten Platz einnimmt, hat viel mit Toten zu tun. Entweder pflegt sie Gräber jenseits der Frankfurter Allee, wobei auf dem Wege dahin schon mal eine lästige Parade durchbrochen werden muss, oder sie bringt ihre Männer einen nach dem anderen unter die Erde.
"‘Dass de Männer aber ooch immer so schnell schlapp machen’, sagte Oma Otti und aß mit großem Appetit. Ein Jammer is det! Alle sagen schon, dass ick eene bin, die de Männer in’t Grab schickt.’" Holger lässt sich ebenfalls den Appetit nicht verderben, begleitet seine Großmutter zur Gräberpflege und wohnt dem Siechtum ihres sechsten Ehemannes Rudi, der im Nebenzimmer unter anderen an einem wanderndem Splitter laboriert, bei.
Holger, der Ich–Erzähler Torsten Schulzes, hat es nicht leicht. Der vorpubertierende Jüngling ist nicht nur mit einem Abschnittsbevollmächtigtem, kurz ABV genannt, und gemeinhin verhasstem Vater geschlagen. Auch mit einer ständig genervten bildhübschen Mutter, einer flirtenden, grabpflegenden Oma und einem "historische überwundenem", weil so gar nicht realsozialistisch gesinntem – und im übrigen sterbenden – Stiefgroßvater muss er sich abgeben.
Da geschieht ein Verbrechen. Im Oktober des Jahres 1968 wird der Kleinhändler Fisch-Winkler erschlagen in seinem Geschäft aufgefunden. Es könnte jeder gewesen sein, als Tatwaffe diente eine Bierflasche. Genosse Jürgens, Holgers Vater, sucht im Kiez nach Verdächtigen. Er nimmt die herumlungernden Jungs vom Boxhagener Platz ins Visier, die Säufer vom Feuermelder und eine Ehefrau, die ihrem Mann im selbigen Feuermelder suchte … Auch Holger hält die Augen offen und macht sich sei Gedanken.
Die Handlung des Romans spielt in wenigen Wochen des Jahrs 1968. Rund um den Boxhagener Platz in Berlin Friedrichshain. Torsten Schulz entfaltet ein überschaubares und genau charakterisiertes Panorama an Figuren und Lokalitäten. Was anfangs noch schlicht formuliert scheint, gewinnt durch wiederholte Bezugnahmen bald den sogenannten Serieneffekt – das Personal des Romans wächst dem Leser zusehends ans Herz. In äußert geschickter Regie führt Schulz seine Protagonisten rund um den Mord zu reinster DDR–Satire. Mit feinem Humor und großem Einfühlungsvermögen rollt er die Welten verschiedener Generationen glaubhaft nebeneinander auf, lässt uns in die Abgründe und Träume 14- bis 86-jähriger schauen. Das wirkt zart und leicht, durchdringt sich perfekt. Mit jeder Seite wächst dem Leser Lust und Begehr an der Geschichte.
Der Vater brüstet sich mit jedem Hinweis vor der Mutter, die wie immer nur verächtliche Blicke für den Erzeuger ihres Sohnes übrig hat. Da läuft wohl nicht viel, wie Holger mal beim Kaffeetrinken mit Oma Otti erlauschte; "Mit’m Holger hat er quasi sein Pulver verschossen."
Der Junge folgert: "Da mein Vater sein Pulver verschossen hatte, ging meine Mutter manchmal ins Café NORD oder zu RENI und kam erst gegen fünf Uhr früh nach Hause. Sie wusch sich dann am Waschbecken in der Küche den ganzen Körper, steckte sich die Haare ordentlich zum Dutt und bereitet eine liebevolles Frühstück mit Zwiebelquark und Rühreiern zu …"
Oma Otti spaziert indessen mit Karl Wegener, ihrem neuen Verehrer und Stifter der Scheintotenballade, Hand in Hand über den Friedhof. Wegener sorgt bald für partielle Aufklärung des Jungen, denn der Mord an Fisch-Winkler gewinnt allmählich politische Dimensionen. Daheim brüstet sich der Vater mit einem auswendig gelernten Bekennerbrief einer Westberliner Studentenkommune und Wegener ergeht sich in Andeutungen zum Spartakusbund. Und nun stirbt auch noch Opa Rudi.
"Hatte meine Großmutter ihren sechsten Ehemann getötet?" Nein, sie hatte "nich doll jestoßen, keen bisschen …"
Alles wandelt sich, der Roman, ohnehin knapp 200 Seiten stark, kommt furios in Fahrt.
"Am nächsten Tag zur Mittagszeit glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen, als mir meine Großmutter die Tür öffnete: Ihre bislang strähnig herunterhängenden Haare waren wellig zurückgekämmt und hatten exakt die Form der Frisur von Friederike Kempner. Nun sah Oma Otti der drallen, pausbäckigen Gedichteschreiberin mit den kleinen verschmitzten Augen zum Verwechseln ähnlich."
Dem nicht genug. Ein bisher nicht erwähnter Sohn Oma Ottis gesellt sich zum Personal des Romans. "Bodo war vierundvierzig Jahre alt und hatte immer noch keine Frau. Entweder schwitzte dir dein Zeug durch die Rippen’, hatte Rudi einmal zu ihm gesagt, Oder beim Briefeaustragen is dir von nem Köter der Schwanz abjebissen worden.’ Seit dieser Bemerkung hatte Onkel Bodo seine Mutter und ihren sechsten Ehemann nie mehr besucht …"
Gut, ich erzähle Ihnen jetzt nicht von dem grandiosen Zungenkuss zwischen Oma Otii und Karl Wegener, auch nicht von der Empörung und dem Outing des Bodo unterm Weihnachtsbaum!
Und überhaupt, lesen Sie bitte selbst, wie der bisherige Drehbuchautor und Dokumentarfilmer Torsten Schulz eine Geschichte mit knapper Besetzung auf engem Raum entwickelt und zu dramaturgischen Orgasmen führt!
Wir wünschen uns baldigste Verfilmung und jährliche Fortsetzung des Romans.
Buchvorstellung am 1. April 2004 um 20.00 Uhr im Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin