Blick zurück in Liebe
Maxim Biller überrascht uns mit seinem neuen Erzählband Bernsteintage nur wenig
Maxim Biller hat ja ein Image. Damit mag er vielen seiner Kollegen etwas voraus haben, das bei jenen bisher selten Anlass für brancheninterne Anerkennung war, aber in Zeiten zunehmender Identitäts- und Qualitätsversicherung durch Medienpräsenz bekanntermaßen auch in der Berufssparte Schriftsteller an Bedeutung gewonnen hat. Biller, das weiß der zeitungslesende Zeitgenosse, ist nichts weniger als das enfant terrible des deutschen Feuilletons, der Elefant im kulturjournalistischen Porzellanbetrieb, der zerschlägt, was eben von sensibleren oder – je nach dem – tumberen Mitarbeitern bislang stehen gelassen wurde.
Gerade noch sorgte er mit seinem in Verdacht auf Autobiografie und Persönlichkeitsrechtsverletzung stehenden Buch Esra für Aufregung in Gerichtssaal und Verlagswelt, da ist ganz unbemerkt ein Erzählband erschienen, der den Autor von einer ganz anderen Seite zu zeigen und sämtlichen medialen Mythenbildungen zu widersprechen scheint: Die sechs Erzählungen in "Bernsteintage", noch vor "Esra" verfasst, sind einfühlsame, nachdenkliche und sehnsuchtsvolle Rückblicke auf vielerlei Arten von Leben, auf Herkünfte und Verläufe, Ursprünge und Endpunkte. Sie gehen der kleistschen Frage nach dem Plan des Lebens nach, folgen Lebenslinien, finden Bruchstellen und fragen nach der Rolle des Erinnerns und Vergessens.
Am Anfang steht die Titelerzählung, die womöglich am meisten autobiografisch geprägte, die von dem Ende einer Kindheit durch den plötzlichen Einbruch des Politischen, in diesem Fall des Prager Frühlings und seiner Zerschlagung, berichtet. Der etwa zehnjährige David muss seine im Kurort Luzienbad neu gewonnenen Freunde verlassen, als die sowjetischen Panzer in die Tschechoslowakei einrollen. Die Familie wird nach Hamburg fliehen. Er versteht nicht, was diese Veränderung, durch die politische Tätigkeit des Vaters notwendig gemacht, für sein Leben bedeutet, fühlt nur, wie schön es ist, am letzten Abend mit der ganzen Familie in einem chinesischen Restaurant essen gehen zu können. Luzienbad erscheint im Rückblick als symbolischer letzter Ort kindlichen Glücks, kindlicher Unschuld. Was davon übrigbleibt, ist das Bild der windgebeugten Fichten des Heilbades und das unbestimmte Gefühl, eine Melodie schon einmal gehört zu haben. "Seine tschechische Kindheit war von seinem Gedächtnis so fest umschlossen wie ein winziger Käfer von einem Bernsteinblock – er selbst war der Käfer, aber er war auch derjenige, der ihn von außen betrachtete, und das verzerrte vielleicht seinen Blick."
Der Zugang zur Vergangenheit ist problematisch, und doch lässt sie die Protagonisten Billers nicht los, sei es als proustsche Sehnsuchtslandschaft, prosaischer Einbruch in den Alltag oder beides zusammen. In "Elsbeth liebt Ernst" wird die lange und tiefe Beziehung Ernsts und Elsbeths, alias Günter Eich und Ilse Aichinger, durch den Fund eines antisemitisch gefärbten Hörspiels, das Ernst in der NS-Zeit geschrieben hatte, gefährdet. Schon sind die Bilder wieder da aus Wien, wo sie sich kennengelernt hatten: "ihre Nächte im Hotel, [ …] die Spaziergänge im Prater, [ …] die belegten Brote von Trzesniewski, die Ausflüge nach Neuwaldegg."
Die Figuren werden von einer umgreifenden Sehnsucht nach den vergangenen Stätten ihrer Existenz getrieben: "Je länger ich von München weg bin, desto sicherer bin ich mir, daß ich zurückkommen werde", sagt der Erzähler in "Der echte Liebermann", der vielleicht einzigen komischen Geschichte. München war der Lebensort seines Bekannten Henry Halperin, der sein Leben lang versuchte, sein Drehbuch "Die Brüder Geduldig" zu verfilmen, aber am ersten Drehtag am Set verhaftet wurde, weil er die Kosten dafür mit gefälschten Bildern bezahlt hatte. Die Sehnsucht nach den Orten erfüllt sich in den Geschichten und in den Menschen. Für den Ich-Erzähler in Henry, für Ernst in Elsbeth, für Onkel Schimschon aus "Auf Wiedersehen in Hasorea" in den HJ-Jungen, die anstatt gegen die jüdischen Pfadfinder zu kämpfen, mit ihnen Fußball spielen.
Biller ist ein geschickter und versierter Erzähler. Mit wenigen Strichen gelingen ihm beeindruckende Szenarien und Figurationen, aber auch differenzierte Kommentare zu zeitgeschichtlichen Themen wie dem deutsch-jüdischen Verhältnis. Die so oft erhörte Klage über die mangelnde Welthaltigkeit der aktuellen deutschsprachigen Literatur perlt an diesem Buch ab wie die zwei Jahre und vier Monate Gefängnis an Henry Halperin. Doch liegt einem manchmal der Vorwurf des Versöhnlerischen auf der Zunge. Im Blick zurück geraten die Charaktere der "Bernsteintage" zu Bestandteilen einer vom Erzähler gehegten und gepflegten Bernsteinkollektion. Wo das nicht der Fall ist, wie bei dem Vater des Protagonisten in "Auf Wiedersehen in Hasorea", bleibt ihnen nur die Flucht in die Karrikatur. Selbst der phlegmatische und defätistische Familienvater Hadi in "Ein ganz normales Leben", den an seinem Leben einzig stört, dass seine Frau Clarissa-Mae beim Sex "zu weit" sei, schwimmt am Ende mit seiner Familie unter dem Regenbogen in einem Münchner See.
Woran man mal wieder den Wahrheitsgehalt von Medienbildern ablesen kann. Wir dagegen ahnten doch immer schon den sanften Kern im Dichter Biller.