… die Lebenslust bringt Dich um.
(Falco)
Kerstin Grether: Zuckerbabys
Sonja ist ein Mädchen aus der Kleinstadt, das nach Hamburg geht, berühmt werden will und magersüchtig wird. Das ist in dürren Worten die Handlung von Kerstin Grethers erstem Roman "Zuckerbabys". Grether, Jahrgang 1975, ehemalige Spex-Redakteurin und Verfasserin vieler vieler kluger Texte über Pop, Feminismus und den ganzen Rest erzählt Sonjas Geschichte allerdings so, dass schnell klar wird: dies ist kein Roman für die Brigitte-Literaturempfehlungen. "Zuckerbabys" erzählt von Frauen, deren Lebensinhalt eigentlich der Pop sein sollte – und die sich dennoch gängigen Schönheitsidealen beugen, sich selbst ein Bein stellen, weil sie nicht wie die Jungs fragen "bin ich cool genug", sondern "bin ich dünn genug". Und wie Lady Windsor schon vor Jahrzehnten sagte: "eine Frau kann niemals schön und dünn genug sein."
Sonja nimmt Gesangsstunden, malt Comics und übt den "albernen Beruf einer Mediendesignerin" aus, doch ihr Selbstbewußtsein tendiert gegen Null. Als sie dann auch noch von ihrem Schwarm Johnny, Musiker und Verkäufer im Szeneklamottenladen, verlassen wird, gibt es für Sonja nur eine Erklärung: sie ist zu dick. Dieser Erkenntnis ging das demütigende Erlebnis voraus, im Szeneladen einen Rock anprobiert zu haben, der nur "nun ja" ausgesehen hat: "Eine Frau darf nie ein Kleidungsstück tragen, das 'nun ja' aussieht". (S. 27)
Sonja nennt sich selbst "Superheldin", doch sie kann der Macht der Bilder, den dünnen Models aus den Zeitschriften nicht entrinnen. Wie beiläufig bringt Kerstin Grether die ganze Misere auf den Punkt: "Frauen sind nun mal Pop und haben ein Einzelschicksal, und Männer sind Rock'n'Roll und besitzen die kollektive Gültigkeit des Rudels." (S. 177)
Grether entwirft einen großstädtischen Mikrokosmos, der bevölkert wird von Micky, Kicky, Allita, Melissa – lauter Frauen, die ihre eigene kleine Eßstörung pflegen. Keine ist "normal dünn": "Manche Mädchen tun dabei so, als könnten sie essen, was sie wollen, ohne zuzunehmen – nur probiert haben sie es noch nicht." (S. 32) Bei Sonja kommt noch die "übliche" schwierige nicht aufgearbeitete Beziehung zur Mutter dazu, same old story, (but no) morning glory.
Dünn zu sein, ist bald das einzige erstrebenswerte Ziel in Sonjas Dasein – alles, was ihr wichtig war (zum Beispiel Popstar zu werden), verliert seine Bedeutung. Singen, Zeichnen, nichts davon kann sie mehr tun, nur schlafen, Kalorien zählen und wie eine Irre trainieren. Bis der eigene Tod zur realistischen Vision wird.
Kerstin Grether beschreibt Sonjas Abgleiten in die Magersucht derart plastisch und eindrucksvoll (Sonjas bruchstückhaft aufblitzende Erinnerungen, Gedankenfetzen, ihre verzerrte Wahrnehmung, körperlicher Verfall, Apathie), dass zu hoffen bleibt, dass die Autorin gut recherchiert hat und nicht die eigene Geschichte verarbeitet.
Pop und Popmusik bilden in "Zuckerbabys" keine frauenromankompatible Kulisse, sondern – eigentlich, wie gesagt - den essenziellen Mittelpunkt in Sonjas Leben. Aus Refrains und Songzitaten, die Grether stream-of-consciousness-mäßig in den Text einfließen läßt, entsteht ein einzigartiger, aber für die LeserInnen nachvollziehbarer und miterlebbarer Soundtrack. Selbst Johnnys Abfuhr pariert Sonja vermeintlich lässig: '"Das erinnert mich", sage ich, "an einen Text von Garbage: You tell me you don´t love me, over a cup of coffee. Es ist übrigens der schönste Song auf der Platte. Eine ganz derbe Ballade."' (S. 91)
Doch Pop kann Sonja nicht retten, alle Begabungen und Ambitionen verpuffen zu einem schwarzen Nichts – zu heftig ist die Konkurrenz der lächelnden Bohnenstangen, die auch in der Musikbranche als Schönheitsideale gelten. Die role models in Sonjas Welt sind Christina Aguilera, Pink, Jessica Schwarz und Destiny´s Child – und ist etwa eine davon dick?
Grether entlarvt, wie sehr sich die Wahrnehmung in den letzten Jahren gewandelt hat: "( …) am laufenden Band recyclen sie Musik und Mode aus den achtziger Jahren, aber keiner will ernsthaft die Körper zurück Die toupierten Haare und die Nietengürtel, alles – aber nicht den naiven Glamour eines normalgewichtigen Frauenkörpers. Es ist ein Phänomen." (S. 65) Wie wahr – kaum zu fassen, dass es mal eine Zeit gab, in der Kim Wilde (mit Babyspeck) und Alison Moyet (richtig dick) Pop- und Posterstars werden konnten.
Grethers lakonischer Blick, ihre Gedankensprünge und die eindringliche Sprache machen "Zuckerbabys" zu einem nachhaltig verstörenden Leseerlebnis, lassen all die süßen kleinen Kindfrauen mit ihren winzigen Körpern in einem veränderten, gruseligen Licht erscheinen. Für Sonja zumindest gibt es am Ende Hoffnung, vermittelt durch Tim, den sie anfangs kaum beachtet hatte – in seiner Gegenwart fängt sie wieder an zu essen.