Jens Sparschuh:
Silberblick
Jens Sparschuh wirft einen korrigierenden
Silberblick auf die Geschichtsschreibung
Der Wahnsinn hat statt gefunden, nur anders. Der radikalste Kritiker der abendländischen Apotheose der Vernunft im neunzehnten Jahrhundert ist ihm nicht verfallen, aber die Welt in Gestalt der Schwester. Friedrich Nietzsche legte sich nur aufs Sofa, hielt spaßeshalber ein Buch verkehrt herum, und schon dachten alle, er sei verrückt. Was hätte man von ihm, dem aufklärerischen Gegenaufklärer, dem moralistischen Kritiker der bourgeoisen Scheinheiligkeitsmoral, dem gehemmten Befreier nie gekannter Begehren denn auch sonst erwarten sollen? "Als Normalmenschen hielt man mich für irre [ …] Als Übermenschen – für übergeschnappt. [ …] Als ich irre war, hielt man das plötzlich für ganz normal." Jetzt muss er sich sogar einen Schnauzbart ankleben, damit der Schwester, dem "Lama" aus Paraguay, nichts auffällt. Einige italienisch-dadaistische Einwürfe in ihr Selbstgespräch tun das übrige, die Schwester in ihrem Glauben an die unumstößliche Absolutheitsskala von Wahnsinn und Normalität und ihre sichere Positionierung in Letzterer zu bestätigen.
Das Lamadrama nimmt seinen Lauf.
Dass einige Dinge durchaus nicht so sind wie sie uns von alters her erzählt wurden, das aufzuklären scheint sich der promovierte Philosoph Jens Sparschuh in diesem Hörspielband zur Aufgabe gemacht zu haben, in dem er einen Silberblick auf die Philosophiegeschichte wirft. So wie demnach Nietzsches "Rückzugsgefecht" in der gleichnamigen Villa in Weimar von der traditionellen Geschichtsschreibung missverstanden wurde, bedarf auch die Bedeutung und Stellung Martin Lampes, des Dieners Immanuel Kants, einer Neuschreibung. In der bestechenden, tragikomischen "Unterhaltung" Ein Nebulo bist du, die in Wahrheit ein Monolog ist, führt uns Sparschuh in die wunderliche Gedankenwelt des vielleicht berühmtesten, gleichwohl unbekanntesten Gehilfen der neuzeitlichen Geistesgeschichte ein. 1989 brachte das Stück in einer Produktion des Saarländischen Rundfunks Sparschuh den Hörspielpreis der Kriegsblinden ein und machte ihn erstmals als Autor weiteren Kreisen bekannt.
Schon 1975 entstanden, ist das Stück gewissermaßen fiktive Geschichtsschreibung von unten, ein nachträglicher Akt sozialistisch-demokratischer Gerechtigkeit, der wahrscheinlich Lampes Bild von sich recht nahe kommt und das seines Herren ein wenig geraderückt; denn – das ist belegt – der Diener sah sich selbst weniger als solcher denn als zweiter Philosoph: nur leider verkannt – nicht bloß im Hause Kant. Umso härter trifft es ihn, dass sein Herr ihn nun nach dreißig Jahren treuen Dienstes entlassen will, wie er erlauschen konnte. Den selbsternannten "Ikarus mit Rucksack" umwehen plötzlich suizidale Gegenwinde. Er versucht es mit dem Degen, er denkt an die Axt, er steigt auf den Stuhl – es hilft nichts. Man weiß doch zu wenig über das Danach, da geht es ihm ganz wie dem großen Königsberger Philosophen, denn: "Das wäre meine höllische Angst. Man stirbt – und alles fängt von vorne an." Also reflektiert er über seine Jahre bei Kant, dem alten Sonderling, dem kein Essen gut genug ist, der ihn den Hahn des Nachbarn zu töten schickt, weil der ihn beim Arbeiten stört und der ihn am Abend anweist, ihn unbedingt um fünf Uhr früh zu wecken und ihn dann um fünf Uhr früh anweist, ihn weiter schlafen zu lassen. Er berichtet sich selbst – "Selbstgespräche, gibt’s was Besseres?" – von Kants peinlich fehlgeschlagenen Heiratsabsichten – "Das Schöne reizt, aber nur das Erhabene vermag zu rühren" – und seinen Dichtungsversuchen – "die zarten, subtilen Dinge der Liebe für uns zu übersetzen". Bei all dem ist Lampe sich sicher: "Dreißig Jahre war ich bei ihm. Nach knapp der Hälfte hatte ich ihn weit überholt. Der klemmte sich gerade vorwitzig hinter die Vernunftkritik, da hatte ich derlei Pedanterien längst hinter mir und war erhaben über solchen Kleinkram, Käsehandel." Es ist im Grunde schade um den Professor: "Aus Kanten hätte was werden können, was Großes. Was? Zum Beispiel ein angesehener Heimatdichter für Königsberg und nähere Umgebung." Denn eines ist klar: "Ein Herr kann niemals schlauer als sein Diener sein." Die Nachwelt wird von Kant nichts mehr wissen wollen, höchsten von Martin Lampe. Dann geht er und weckt Kant, der noch schläft, es ist fünf Uhr früh. Vielleicht ist es das letzte Mal. Nachdem er ihn entlassen hatte, schrieb sich Kant auf einen Merkzettel: "Lampe muß vergessen werden!"
Mit viel sprachlichem Feinsinn und in einem der Zeit der Handlung angemessenen Duktus zeichnet Sparschuh das spröde-liebevolle Bild einer Beziehung zweier recht unterschiedlicher Charaktere: auf der einen Seite der große Philosoph Kant, der "Alleszermalmer" (Mendelssohn) und Kopernikus der abendländischen Philosophiegeschichte, der mitunter auf recht ungelenke und nicht immer "pflichtgemäße" Weise versucht, den ihm begegnenden Alltagsproblemen Herr zu werden und ohne seinen Adlatus wohl so manches Buch nicht hätte schreiben können – und auf der anderen Seite Lampe, der trotz seiner etwas überhöhten Meinung von sich selbst und den manchmal schwierigen Marotten seines Herrn Kant diesem im Herzen treu ergeben ist und die Trennung von ihm nur schwer verwinden kann. Sparschuh ist selbstredend ein Kenner des kantischen Lebens und Werks, flicht hier ein Zitat ein, spielt dort mit einem Aphorismus. Besonders galant gelingt ihm aber der Tanz auf dem Seil zwischen Komik und Tragik. Lampe als auch Kant bieten sich in komplementärer Weise als komische Figuren an, wenn man an Schopenhauers Definition des Komischen als Inkongruenz von Anspruch und Realität denkt. Eine Komödie, eine Burleske hätte durchaus nahegelegen. Was jedoch die Qualität dieses Stückes ausmacht, ist, dass Sparschuh darüber das Ganze der Personen nicht vergisst, die von der "Hinfälligkeit des Lebens" (Kant) so betroffen sind wie wir alle.
Diese existenzielle Komponente beider Texte ist es auch, die in den beigefügten Grafiken des Leipziger Künstlers Reinhard Minkewitz betont wird. In schwirrenden Linien, die Konturen verblassend, die Naturformen vergessend, werden hier die Achsen unserer Leben und ihre diffuse und fragile Existenz in den Fokus gerückt und befragt. Das Zwiespältige der Vernunft windet sich im Wahn eines Zusammenhangs. Ruhe findet es allein in der Bewegung.