Stummes Dasein
Yoko Tawada:
Das nackte Auge
Man stelle sich vor, man landete unversehens auf einem anderen Planeten. Ohne die Sprache zu verstehen oder das Verhalten der Einheimischen entschlüsseln zu können. Etwa das passiert einer jungen Vietnamesin in Yoko Tawadas Roman "Das nackte Auge": Von der kommunistischen Partei in die DDR entsandt, um dort eine Rede zu halten, landet sie in Westdeutschland. Völlig hilflos, ist der jungen Frau eine Rückkehr unmöglich und sie dem Mann ausgeliefert, der sie betrunken gemacht und über die Grenze geschmuggelt hat. Aber statt sich einzurichten in dem neuen Leben verweigert sie sich: Tawada beschreibt einen Menschen, der in völliger Passivität alles mit sich geschehen lässt und gerade genug Initiative aufbringt, um zu überleben. Die nicht umsonst namenlose Protagonistin lässt sich einfach treiben und nimmt alles hin, was ihr an Gutem oder Schlechtem widerfährt. Dabei verschwimmen Traum und Wirklichkeit: Nichts ist sicher in dieser unbekannten Welt. Wie in einem klassischen Märchen durchwandert die Hauptfigur eine Station nach der anderen, begegnet hilfreichen und weniger wohlwollenden Menschen. Für sie scheint alles im Wortsinn gleichgültig; durch ihre Sprachlosigkeit ist sie gezwungen, sich ihre eigene Interpretation der Welt zu schaffen.
Kein Wunder, dass sie – inzwischen nach Paris verschlagen – im Kino landet, wo man alles wieder und wieder ansehen und analysieren kann. Eine berühmte Schauspielerin (deren Filme die Kapitel im Buch betiteln) wird zur einzigen Konstante, zur Bezugsperson. Immer wieder vertieft die junge Frau sich in jedes Detail der Rollen, die die Verehrte spielt. Dabei erzählt sie sich ihre eigene Geschichte, die sie sich aus den Bildern auf der Leinwand zusammenreimt. Alle echten Menschen dagegen bleiben schemenhaft und unwirklich.
Die junge Vietnamesin hegt dennoch vage Wünsche in der echten Welt: Auf die Uni gehen und Philosophie studieren, Schauspielerin werden – aber nie bringt sie die Kraft auf, die Sprache zu lernen oder selbst etwas zu unternehmen. Zehn Jahre lässt sie sich so dahin treiben, lebt bei Zufallsbekanntschaften, Männern oder auf der Straße. Ihr eigentliches Leben aber findet im Kino statt, und immer mehr identifiziert sie sich mit der Schauspielerin, bis hin zur völligen Verschmelzung.
"Das nackte Auge" ist die beunruhigende Geschichte von einer, die alles hinnimmt: eine negative Odyssee durch ein stummes Dasein, das im Nichts endet. Durch ihre Sprachlosigkeit fällt die junge Vietnamesin aus der Zeit heraus, ihr Leben steht still. Wer keine Sprache hat, wird zum Gespenst und die Welt bleibt ihm für immer verschlossen.