Samuel Pepys
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1703 stirbt Samuel Pepys in London im Alter von siebzig Jahren als hochgeachteter Mann. In der Epoche der britischen Restauration gelang ihm eine beeindruckende Karriere: Pepys diente sich vom einfachen Privatsekretär zum Flottenadministrator, dann zum Parlamentsabgeordneten und schließlich zum Staatssekretär hoch. Seine knapp 3000 Bände umfassende Privatbibliothek gelangt nach seinem Tod an das Magdalene College in Cambridge, darunter befinden sich sechs in Kalbsleder gebundene Bände mit eigenen Aufzeichnungen in einer geheimnisvollen Kurzschrift. Es dauert mehr als hundert Jahre, bis sich die Aufmerksamkeit auf die Bände richtet und die Texte entschlüsselt werden. 1825 erscheint eine kleine Auswahl aus den rund 3100 Seiten umfassenden Aufzeichnungen, der eher zufällige Fund ist eine Sensation. Bei den Bänden handelt es sich um Pepys’ Tagebücher aus den Jahren 1660 bis 1669, es sind Texte die bis heute verwundern, verstören und begeistern. Durch sie gelangt sein Autor zu Weltruhm und geht als wirkungsmächtigster Erneuerer der antiken Gattung, ja sogar als erster moderner Autobiograph in die Literaturgeschichte ein. Und ebenso als der radikalste.
"Am Morgen prächtig Wasser gelassen, doch meldeten sich anders als sonst, wenn ich einmal damit angefangen hatte, keine weiteren Fürze noch regte sich irgendein Stuhl." Das Unerklärliche an Pepys Aufzeichnungen ist das Neben- und Aneinander von privaten, politischen und gesellschaftlichen Notizen. Der Autor ist ein manisch-pedantischer Chronist, der nicht zwischen wichtig und unwichtig, zwischen Intimsphäre und Historie, zwischen Subjekt und Objekt unterscheidet, sondern jedes Ereignis und jedes Erlebnis mit der gleichen Akribie verzeichnet. Für den Historiker ist das Tagebuch ein einzigartiger Glücksfall – Pepys beschreibt alle bedeutsamen Ereignissen der Zeit wie den Ausbruch der Pest oder das Große Feuer von London (1666) aus nächster Nähe, er hat Zugang zum Hof und porträtiert die einflußreichsten Menschen des Landes. Mitunter recht weitgehend: "Doch an Myladys hochrotem Kopf sah ich sofort, daß sie gerade in meinem Wohnzimmer etwas auf dem Topf erledigt hatte, was mir ebenfalls peinlich war". Zudem macht sich Pepys Gedanken, wie die Pest die nächste Perückenmode beeinflussen wird, hofft, einen guten Platz für Turners Hinrichtung zu bekommen, rezensiert Predigten wie ein Buchkritiker und liebt und notiert auch die albernsten Klatschgeschichten. So sind die Aufzeichnungen auch für den an der Geschichte weniger interessierten Leser ein Geschenk: "Captain Ferrer erzählte vom neuesten Klatsch am Hof, unter anderem, wie bei einem Ball vor einem Monat eine der Damen beim Tanzen eine Fehlgeburt hatte. Niemand wußte, zu wem der Fötus gehörte, bis jemand ihn zuletzt mit einem Taschentuch aufhob." Pepys ist ein Schreiber ohne zynische oder ironische Anflüge, trotzdem entwickeln viele Einträge insbesondere in ihrer Abfolge eine unfreiwillige Komik. So berichtet Pepys am 6. Juni 1666 von den spontanen Feierlichkeiten am Hof aufgrund des Verstummens des Kanonendonners und der anschließenden Siegesmeldung der englischen über die holländische Flotte – und beschreibt einen Tag später sein Entsetzen über die Kunde, daß die Holländer den Sieg davongetragen und die Engländer vernichtend geschlagen haben.
Das für den Leser Gespentische an den Notaten ist die Unbestimmtheit des Empfängers. Einerseits ist Pepys ein genauer, kritischer und vielseitig interessierter Chronist allgemeingültiger Ereignisse und Erkenntnisse, die sich an eine große Öffentlichkeit wenden, dann wieder folgen höchst intime Einblicke in Pepys kurioses Seelen- und Traumleben: "Und dann fiel mir auch wieder ein, daß ich im Traum Mr. Creed von der Schwellung meines rechten Hodens erzählt hatte, und er hatte geantwortet, bei ihm sei es der linke, was mich sehr amüsierte." Und viele Einträge sind nicht nur privater Natur, sondern peinlich und entlarvend. Denn Pepys ist ein Opportunist und doppelmoralischer Karrierist, der seinen enormen Aufstieg zunächst nur Protektion und seiner entschlossenen Wendehalsigkeit zu verdanken hat; im Aufzeichnungszeitraum wächst sein Vermögen von 25 auf mehr als 10.000 Pfund. Pepys ist korrupt und bestechlich – und ein zerrissener Mensch, der seine Frau tatsächlich liebt, sie aber trotzdem schlägt und bei jeder sich bietenden Gelegenheit betrügt. Und davon gibt es genügend, denn gern läßt sich Pepys Gefälligkeiten in handfester Währung auszahlen: "Ich berührte sie überall und ließ sie auch mein Ding anfassen und durfte dessen Spitze an ihre Brust und nachher auch gegen ihren Bauch drücken, wofür ich mich im nachhinein sehr schäme und entschlossen bin, es nie wieder zu tun." Er tut es aber trotzdem und immer wieder. Und insbesondere das vergebliche Ankämpfen gegen seine Lasterhaftigkeit und das permanente Scheitern an seinen Vorsätzen macht das Buch so aufregend und ungeheuerlich. Pepys kennt Reue, aber keine Scham, er versteckt weder seine schlechten Charakterzüge noch beschönigt er sich und seine Fehlleistungen.
Die nun im Eichborn Verlag erschienene, von dem im letzten Jahr verstorbenen Volker Kriegel begonnene und von Roger Willemsen vollendete Auswahl aus Pepys Tagebüchern überzeugt, da sie gleichermaßen den privaten und den öffentlichen, den historisch relevanten und den literarisch unterhaltsamen Charakter seiner Aufzeichnungen betont. Allein die Illustrationen von Volker Kriegel und den anderen Zeichnern fügen sich nicht harmonisch in das flott geschriebene und modern übersetzte Buch ein, da sie einseitig die humoristische Seite des Buches hervorheben. Andererseits, was will man angesichts solcher Fundstücke auch tun: "Mr. Townsend getroffen, der mir von seinem Mißgeschick erzählte, daß er kürzlich versehentlich mit beiden Beinen in ein Hosenbein gestiegen und dann den ganzen Tag so herumgelaufen sei."