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August 2004
Patrick Baumgärtel
für satt.org

P.F. Thomése:
Schattenkind

Berlin Verlag 2004

P.F. Thomése: Schattenkind

120 S., € 14,90
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P.F. Thomése: Schattenkind

In Schattenkind verwandelt P.F. Thomése seine Trauer über den Tod der Tochter in ein Stück außergewöhnliche Literatur.


Nach Kierkegaard basiert die neuzeitliche Existenz auf der Verzweiflung, man (nicht) selbst sein zu wollen. Daraus erwächst die Idee der Liebe zum Anderen, an den man sich verlieren möchte, in dem man sich auslöschen möchte. Da dies jedoch nie vollständig gelingen kann, verzweifelt man erneut. Dies aushalten zu müssen, ist die Krankheit zum Tode, aus der es nur einen Ausweg gibt: den Glauben an Gott.

Für den Erzähler P. F. Thomése scheint sich dieses Refugium nicht anzubieten. Mit seiner im Alter von nur wenigen Monaten gestorbenen Tochter Isa geht ihm ein Teil seines Selbst verloren, dessen Entstehung und Zerfall er in immer wieder neuen Anläufen insistierend, unablässig und ungläubig umkreisen muss, um sich nicht völlig abhanden zu kommen. Wie der kierkegaardsche Spießbürger hatte Thomése die "ungeheure Elastizität" (Kierkegaard) des Seins unterschätzt, und sich im Wahrscheinlichen eingerichtet. Der Kontext des Sterbens lag außerhalb: "Ich hatte das Leben in der Hand, aber jetzt bin ich ihm in die Hände gefallen. Ich leugnete den Tod, jetzt bin ich bei ihm zu Hause. Ich weiß dann demnächst, wo ich hinmuss: Ich war schon mal da." Mit der Tochter, gleich einem "Vulkanausbruch", wurde auch er neu geboren, mit der Tochter ist auch er nun gestorben, das Innere "voller toter Stellen". Also schreibt er um sich selbst. Aus verschiedenen Perspektiven, Kamerapositionen, Lichteinfällen eingefangen, erscheinen die Konturen eines Menschen, den das Leben ein zweites Mal in seinen Startblock gestellt hat. In der Auseinandersetzung mit den ihn und seine Frau aufsuchenden Träumen, mit christlichen und antiken Mythen versucht er, sich diesem Gedanken zu nähern, ihn in sich Gestalt annehmen zu lassen. Eine Schmerzensarbeit an sich selbst ist dieses Buch, hinter jedem Satz flackert das hiobsche 'Warum?' in Leuchtlettern auf, seine Flammen ein Ich verzehrend. Verzweifelt bemüht, aus der Asche eine neue Skulptur zu meißeln, versucht Thomése, den geheimen Mechanismen, den verborgenen Strukturen auf die Schliche zu kommen: "Wie oft begegnet man dem Tod, ohne ihn zu sehen? Wie oft wird man gerettet, ohne es zu merken?" "Wie hätte ihr Etruskisch geklungen?" Die Antwort bleibt, anders als bei Kierkegaard, aus. Stattdessen tritt der Körper der Tochter an die Stelle des nicht fassbaren Gottes; das Bild der Mutter mit dem Kind am Krankenhausbett gerät zur Pietá.

Dem Autor schlüpft die Außenwelt aus dem Blickfeld. Zuerst lebhaftes Hassobjekt eines aus dem Leben Getretenen, wird sie zusehends fremde, gleichgültige Körperwelt, deren Erscheinungsformen bekannt, aber uninteressant geworden sind, da sie einer anderen Zeit anzugehören scheinen. Eine Vermittlung erscheint unmöglich, eine Verbindung kann nur durch die Künstlichkeit aufrecht erhalten werden, die entsteht, wenn Thomése den spielt, der er einmal war und in die Zeit zurückspringt, deren linearer Verlauf ihm nicht mehr zur Verfügung steht. Dann wandelt er als Toter durch die Totenstadt, spricht mit den Toten und sieht sich selbst beim Totsein. Er vergleicht sich mit Odysseus, als er aus Troja nach Hause kam, das für ihn kein Zuhause mehr war. Er blickt auf einmal "durch die Worte hindurch". Die erlebte Grenzsituation lehrt ihn den Zweifel an der Sprache, dem er mit Schweigen und mit Schreiben begegnet. Mit Schweigen gegenüber den Menschen, denn Sprechen ist zumeist Denken in Klischees. Erfahrung ist nicht mehr vermittelbar, da sie die Akteure auf quasi-private Bewusstseinsinhalte reduziert hat. Mit Schreiben, denn: "Wenn es sie noch irgendwo gibt, dann in den Worten, auf die ich nachts warte." Nur in der "Alchemie der Worte", die der Vater Nacht für Nacht heraufbeschwört, lebt seine Tochter weiter, wird sie von ihm für sich "immer wieder neu geboren".

P.F. Thomése hat uns keinen Ausweg aus Kierkegaards Diagnose anzubieten. Als verzweifelt Liebender muss er in ihr verfangen bleiben und kann dem kühlen (und anachronistischen?) Auge des Philosophen nur die wohlfeile Illustration seiner Theoreme anbieten. Für den Autor gibt es keinen anderen Weg, als schreibend an der Figur der geliebten Tochter festzuhalten. In dem verdichteten Gitter der einzelnen Kapitel schafft er sich das Maß an Orientierung, das er benötigt, um weiter existieren und schreiben zu können. Uns erwächst daraus ein Text, der in seiner radikalen autobiografischen Unmittelbarkeit sowohl Zeichen der Zeit als auch Ausdruck der Spannweite und Wirkungsmacht von Literatur ist.