Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



September 2004
Patrick Baumgärtel
für satt.org

Der letzte Kirschkern
Suhrkamp 2004

Der letzte Kirschkern

€ 5,00    » amazon

Tod oder Zweitleben?

In Der letzte Kirschkern werden
die großen Fragen ganz fein gestellt


Was würden Sie tun: Sie sind einer der letzten vier Ungarn in Ungarn, Sie sind entweder schwerhörig, stehen unter polizeilicher Beobachtung oder haben einen Namen? Sie möchten erinnert werden. Wie würden Sie gern erinnert werden? Indem Sie einen Stein in die Luft werfen? Nein, der fällt doch wieder herunter, Sie Dummerchen! Sie nehmen einen Kirschkern und legen ihn zwischen zwei Steine. Einfach, nicht?

So wie István Örkénys namensgebende Geschichte, eine Art ungarische Kurzfassung von Becketts Endspiel, gibt diese Kleine Sammlung kurzer Texte, zusammengestellt von Hans-Ulrich Müller-Schwefe, dem Leser einen kompakten Leitfaden zur alltäglichen Bewältigung unserer absurden Existenz an die Hand. Nach außen hin handelt es sich um ein geheimnisvolles Büchlein, ohne Vorwort und ohne Nachwort. Anfang und Ende bilden zwei Stilübungen Raymond Queneaus, eine kulinarische und eine nicht-kulinarische. Innen handelt es von den bekanntesten Dingen, nämlich Fragen.

Zum Beispiel jenen des größten Interrogators vor Günther Jauch, Max Frisch: "Was fehlt Ihnen zum Glück?" Worauf Palinurus auf gewohnt stoisch-störrische Weise mit den eigenen Fragen kontert: "Gäbe es keine Eltern, die uns lehren, gut zu sein, keine Schulmeister, die uns zum Lehren verführen, niemanden, der auf uns stolz sein möchte, - wären wir dann nicht glücklicher?" "Kümmert sich die Natur auch nur im geringsten darum, ob wir uns höher entwickeln oder nicht?" "Welches Ungeheuer schmuggelte den Gedanken des Fortschritts zuerst ein? Wer verdarb unsere Auffassung vom Glück durch solche Wachstumsschmerzen?" Auf Frischs folgende Frage "Möchten Sie lieber gestorben sein oder noch eine Zeit leben als ein gesundes Tier?" ist sich Günter Eich nicht sicher, schließlich hat er sein Zweitleben in der Besenkammer sitzen, stehen oder liegen, doch ob er es auch gebrauchen soll? Gleichzeitig wäre so ein Leben als Maulwurf vielleicht auch ganz angenehm. Aber, bittet Erich Kästner zu bedenken, Sterben wird auch nicht einfacher mit zunehmendem Alter. Auf die Frage nach der Überzeugungskraft von Selbstkritik gibt sich Peter Handke wiederum ganz zuversichtlich und folgenden Rat mit auf den Weg: "Halt fest, was du immer wieder von Unbekannten, nach ihrem Anschein urteilend, Falsches (schlecht) gedacht hast – und zugleich, wie erlösend du jeweils widerlegt worden bist": Feier der Selbstkritik als befreiendes Korrektiv der eigenen Beschränktheit. Die Frage "Hätten Sie lieber einer anderen Nation (Kultur) angehört und welcher?" muss für Paul wie blanker Hohn klingen. Er hat sich gerade eine Füllfeder gekauft, damit er den Ernstfall proben kann. Er schreibt auf ein Blatt: "Mir ist es hier zu kalt," "ich gehe nach Südamerika". Dann zerreißt er es wieder. Die Füllfeder hebt er auf. Vielleicht führt sie ihn doch noch nach San Salvador (Peter Bichsel) und weg von Hildegard. Derlei bürgerliche Beklemmungen bekümmern einen Cioran nicht, der bekennt: "Ich erinnere mich, irgendwann ein Kind gewesen zu sein. Mehr nicht. Mir die Sanftheit des Lebensschlafs wieder vorzustellen, das versagt mir mein Gedächtnis." Würde, so Max Frisch, er sich demnach wohl ein absolutes Gedächtnis wünschen? Schwierige Frage. Ein absolutes Gedächtnis würde Cioran wieder den lauen Gefilden der Kindheit, Sinnbild paradiesischer Unbeschwertheit, näherbringen, die ihm das Erwachsen der Vernunft im Mannesalter genommen hat. Doch ist es nicht gerade die Verdrängung des frühen Glückes, die ihm das Leben trotz aller Todesangst, alles Wissens, aller Langeweile überhaupt erträglich macht? Und dürfte man sich denn seinsvergessen hingeben an die lockenden Verzückungen dieser Erinnerung? Das Problem bliebe in jedem Fall: "Wie konnte ich es wagen, je Kind zu sein?"

So sind es die alten großen Fragen (von den großen gibt es nicht so viele und anscheinend auch keine neuen), die den Inhalt dieser Textsammlung ausmachen, aber auch die kleinen Splitter, die Randnotizen und flüchtigen Beobachtungen, in denen jene sich wiederfinden, und die zugleich ihre ganz eigene Perspektive besitzen. Gestellt werden sie von den großen Stilisten und Skeptikern der (zumeist) westeuropäischen Nachkriegsliteratur, viele davon aus den Hausverlagen. Adorno und Beckett, Brecht und Bloch, Günter Eich und Wolfgang Hildesheimer, Jürg Federspiel und Martin Walser finden sich hier vereint. Da werden zum einen die Konturen des kritischen Blickes der sogenannten Suhrkamp-Kultur sichtbar, zum anderen aber erlangt man als Leser eine Ahnung von der luxuriösen Abwegigkeit einer ästhetizistischen Literaturauffassung im Zeitalter zwischen Genozid und kapitalistisch-medialer Ruhigstellung.