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Oktober 2004

Sven Regener:
Neue Vahr Süd

Eichborn 2004

Sven Regener: Neue Vahr Süd

582 Seiten, geb.,
24,90 Euro
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Sven Regener: Neue Vahr Süd

Wie schon bei "Herr Lehmann" verfolgt Regener das Projekt der lückenlos protokollierten haarkleinen Alltagsbeobachtungen, auch wenn sie zur Handlung nur bedingt beitragen.

Herrn Lehmann kennen wir ja schon aus dem gleichnamigen Roman (hoffentlich; wer nur den Film gesehen hat, sollte das mit dem Lesen schnell nachholen, ist nämlich um einiges besser). Wir konnten miterleben, wie der Endzwanziger sein Leben in Berlin mit tiefschürfenden Gedanken über Elektrolyte und frühstückende Zeitgenossen sowie dem Trinken von Bier und Gesprächen mit "Kristall-Rainer" verbrachte, bis zu jenem denkwürdigen Abend im November 1989, als Lehmann Zeuge des Mauerfalls wird. "Herr Lehmann" war einer der Überraschungshits des Jahres 2001 und ganz nebenbei einer der unaufgeregtesten deutschen Zeitgeist-Bücher zum Thema "West-Berlin kurz vor der Wende".

Nun erfahren wir endlich etwas über die Zeit, als Herr Lehmann noch Frank oder "Frankie" hieß. Wir schreiben das Jahr 1980 und Frank Lehmann ist schon jetzt so verspult, wie wir ihn aus 1989 in Erinnerung haben. Er hat es nämlich irgendwie verpasst zu verweigern und muss deshalb zum Bund. Noch lebt er bei seinen Eltern in der Neuen Vahr Süd, einem Neubauviertel von Bremen, aber schon bald wird er – aufgrund eines Vorfalls mit einem reparaturbedürftigen Fernseher - in eine kommunistisch bewegte WG ziehen. Die immerhin fast 600 Seiten des Romans werden unterhaltsam gefüllt mit den kaum erträglichen Umständen und Schikanen in der Kaserne und den nicht weniger abstrusen und dennoch realitätsnahen Auseinandersetzungen im Privatleben. Regener ist nach wie vor einer der besten Dialog-Schreiber, die wir in der deutschen Gegenwartsliteratur haben. Immer wieder gelingt ihm die hundertprozentige Wiedergabe des Soziolekts seiner Protagonisten, etwa wenn Achim sagt: "Was wollen Sie denn mit dem seine Personalien?" oder wenn die im Auto mitgenommenen Studenten davon sprechen, hier werde man ja in "Sippenhaft" genommen. Wie schon bei "Herr Lehmann" verfolgt Regener das Projekt der lückenlos protokollierten haarkleinen Alltagsbeobachtungen, auch wenn sie zur Handlung nur bedingt beitragen. So retten einzig die Dialoge über so manche langatmige Phase des Buches hinweg. Wer an das Jahr 1980 keine bewusste Erinnerung hat, niemals einen Widerspruch in Haupt- und Nebenwiderspruch zerlegen oder durch den Schlamm robben musste, kann nach der Lektüre davon ausgehen, dass er trotzdem ungefähr weiß, wie sich das alles abgespielt haben muss und warum die heute um die Vierzigjährigen zum Teil so komische Käuze sind.

Sicherlich wird auch "Neue Vahr Süd" wieder verfilmt werden – da sollte mindestens eine Goldene Kamera drin sein. Außerdem heißt es, Regener plane das Projekt auf eine Trilogie auszuweiten. Wenn das stimmt, können wir uns wohl auf eine Bestandsaufnahme der 90er aus Lehmannscher Sicht gefasst machen. Es sollte nicht zu unserem Schaden sein.