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Oktober 2004

Martin Walser:
Der Augenblick der Liebe

Rowohlt 2004

Martin Walser: Der Augenblick der Liebe

254 Seiten, geb.,
19,90 Euro
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Martin Walser:
Der Augenblick der Liebe

Der liebende Hedonist: If it makes you happy, it can’t be that bad. Aber wann ist man schon glücklich?


Gottlieb Zürn, den Protagonisten, kennen Walser-Leser schon aus dem "Schwanenhaus". Der Immobilienmakler hat sich ganz auf die Philosophie verlegt und forscht nun erfolgreich in den Gewässern des Materialisten La Mettrie, einem französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, während seine Frau Anna die Immobiliengeschäfte fortführt. Die Ehe der beiden scheint Gottlieb, den forschen Segler, ein wenig an Rückenwind verloren zu haben: "Ihnen konnte nichts mehr passieren. Ihnen passierte auch nichts mehr. Ihm passierte nichts mehr." Die klassische Midlife-Crisis – bei dem gut 70jährigen tritt sie etwas verspätet ein. Doch es naht Rettung: Beate Gutbrod, eine etwa vierzig Jahre jüngere Studentin aus den USA, kommt zwecks Recherche an den Bodensee, um den La Mettrie-Experten für ihre Dissertation zu interviewen. Bei Calvados und in Anwesenheit von Frau Zürn kommt es zu harmlosen Annäherungen. Doch innerlich ist man sich schon füreinander entbrannt. Kaum ist Beate wieder fort, quält Zürn die Sehnsucht; er muss Kontakt aufnehmen. Nach ersten Briefen und Anrufen und sogar wildem Telefonsex winkt höhere Gewalt in Form einer La Mettrie-Tagung, zu der Frau Gutbrod natürlich auch Herrn Zürn einlädt. Zürn kommt der Einladung nach, man vereinigt sich in drei verschiedenen Hotelzimmern, Beate kämpft gegen das sexistische Universitätssystem und gegen machistische Kollegen, doch die Sehnsucht nach Zuhause, nach Anna wird stärker, und nach einer entwürdigenden Lesung (inklusive Zürns bezeichnend hysterischer Reaktion: er verliert während des Vortrags seine Stimme!) an der Universität entscheidet sich Zürn schließlich schnellstens zu seiner Frau zurückzukehren – nicht nach langem Ringen, sondern aus einer inneren Notwendigkeit heraus. Kaum zurück fühlt er sein Verlangen nach Beate wieder aufbranden, doch ein Brief aus den USA enthüllt ihm: sie hat geheiratet, und zwar das größte Arschloch auf dem Campus. Das Buch endet, wenn man so will, mit einem zweiten Eheversprechen (nachdem Zürn seiner Frau das SIE angeboten hat): "Und Anna: Wenn Sie so wollen. Und Gottlieb: Ich will."

Kommen wir zunächst zu den offensichtlich schwachen Passagen des Romans, an deren erster Stelle die "Schiffsunglückpassage" steht. Wie sich Zürn im vorderen Drittel des Buches ein Bootsunglück zusammenphantasiert, das nimmt, wie es sich für Phantasien gehört, das gesamte folgende Buch vorweg, aber wie schlecht schreibt Walser da, in dieser Passage. Stakkato-Sätze, die wohl die Panik, die Angst des Protagonisten enthüllen sollen, die aber de facto den Leser fast dazu treiben das Buch aus der Hand zu legen und nicht mehr wieder aufzunehmen: "Das Wasser schlägt über ihnen zusammen. Die Wellen. Der erste Blitz. Die Wetterwand ist heran. Ein nicht sofort knallender Donner. Zurück zur NIOBE. Die schwankt. Und sinkt." Ich denke von einem Schriftsteller Walserscher Statur sollte man mehr erwarten können als solch postmodern abgehacktes Pop-Geschreibsel. Auch später fällt er ein ums andere Mal in dieses unerträgliche Stammeln zurück. Aber das sind ja nur einige Passagen unter vielen, und es finden sich genug Sätze, die man dann auch wieder gerne liest. Walser neuer Roman ist, man hat es schon des öfteren in Rezensionen vernommen, ein herzlicher Lobgesang auf die Mühen der Ehe (und ich denke tatsächlich er meint die Ehe, nicht irgendwelche alternativen Lebensgemeinschaften – soviel Konservatismus sei einem 70jährigen zugestanden), auf ihre Absonderlichkeiten und Leiden, aber eben auch auf die zum Teil wunderbaren Momente, die man nur nach Jahren des Zusammengehörens erleben wird. Walser nennt solche Partnerschaft an einer schönen Stelle eine "wunderbare Wüste gemeinsam erworbenen Schweigens". Nichts könnte der gymnastikbetonten Cheerleaderhaftigkeit einer Beate Gutbrod mehr widersprechen.

Der Protagonist ist dabei unschwer als Alter Ego des Autors zu verstehen. Wie Zürn in den USA an seinem Vortrag über La Mettrie scheitert und sich (miss-)verstanden fühlt als Verleugner der deutschen Geschichtsschuld, das nimmt die umstrittene Paulskirchen-Rede Walsers vor einigen Jahren wieder auf. Man sollte es dem Autor nicht übel nehmen, dass er leichtsinnig und eitel diesen Fall unverschämt unverblümt wieder aufs Tapet bringt, ebensowenig wie man ihm "Altersgeilheit" vorwerfen kann, ein Terminus, über den im Roman heftig diskutiert wird. "Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er denn das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahndung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr." Exakt. Wer sich noch niemals über das von anderen zugestandene Maß hinaus ohne jede Rücksicht auf Vernunft verliebt hat, der werfe den ersten Stein. Kann im Übrigen ein La Mettrist anders handeln? Jemand, dem die eigenen Sinne die einzige Religion sind?

Der "Augenblick der Liebe" aber, der findet bezeichnenderweise in der Gegenwart Annas statt, die die eigentliche souveräne Hauptfigur des Buches ist. Sie heilt andere Menschen mit Pflanzen, sie hat mehr als eine Ahnung von dem, was in ihrem Mann vorgeht, und lässt sich doch nicht einmal provozieren. Bei der Beschreibung dieser Frau gelingen Walser nicht von ungefähr die schönsten Sätze: "Und er dachte, als er jetzt Anna ansah, daß ein Gesicht, das man kennt seit es jung war, nie bloß alt werden kann. Das junge Gesicht schaut aus allen Jahren heraus."