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November 2004
Thomas Vorwerk
für satt.org

Paul Auster:
Das Buch der Illusionen

Rowohlt 2003

Paul Auster: Das Buch der Illusionen

384 S., 9,90 EUR
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Paul Auster:
Das Buch der Illusionen


In den letzten zehn Jahren sind erstaunlicherweise nur drei Romane* von Paul Auster erschienen, und die ersten zwei davon, "Mr. Vertigo" (1994) und "Timbuktu" (1999), waren bei der Kritik auch nicht unbedingt unumstritten.

Mit "The Book of Illusions" legte Auster nun aber ein Werk vor, das nicht nur in gewisser Weise seine Filmerfahrungen ("Smoke", "Blue in the Face", "Lulu on the Bridge") reflektiert, sondern vor allem zeigt, daß er als Autor gereift ist.

David Zimmer ist als Professor für Literaturwissenschaft in Vermont tätig, bis 1985 seine Frau mit den zwei Kindern bei einem Flugzeugunglück ums Leben kommen. Zimmer stürzt dadurch auch ab - in eine verzweifelte Leere, in der einzig der Alkohol ihn begleitet. Bis er zufällig beim Zappen auf eine Dokumentation über Stummfilmkomiker stößt und ihn ein Ausschnitt aus einem Hector Mann-Film zum ersten Mal seit langem wieder zum Lachen bringt. In der Dokumentation wird erwähnt, daß überall auf der Welt die größtenteils für verschollen erklärten zwölf Kurzfilme Manns wieder auftauchen, etwa im Museum of Modern Art, im British Film Institute oder der Pariser Cinémathèque. Zimmer, der durch Lebensversicherung und Entschädigung der Fluggesellschaft wohlhabend geworden ist, beschließt, sich diese Filme anzuschauen, und als er im ersten Archiv gefragt wird, ob er ein Buch über Hector Mann zu Schreiben beabsichtigt, bejaht er die Frage - und schreibt schließlich das Buch.

Konzentrierte Arbeit ist immer ein gutes Mittel gegen Depression, und gleich im Anschluß an The Silent World of Hector Mann beginnt Zimmer die Arbeit an einer voluminösen Übersetzungsarbeit. Doch dann erreicht ihn ein Brief von Frieda Spelling, die sich als Frau des seit 60 Jahren verschwundenen und allgemein für tot gehaltenen Mann ausgibt - und Prof. Zimmer bittet, sie und ihren Mann auf einer Farm in New Mexico aufzusuchen. Zimmer glaubt nicht recht daran, wird aber von seiner Arbeit abgehalten, und sein mentaler Zustand beginnt sich wieder zu verschlechtern - bis nachts eine Frau in seinem Haus auftaucht, die ihn notfalls mit Waffengewalt nach New Mexico mitnehmen will - aber nichts von Zimmers selbstzerstörerischen Geisteszustand ahnt …

Daniel Zimmer erinnert in vielerlei Hinsicht an seinen Schöpfer Paul Auster - und an dessen alter egos in früheren Büchern. Aber "The Book of Illusions" geht über die übliche Austersche Suche nach dem Lebenssinn hinaus, wenn man etwa im zweiten Kapitel über zwanzig Seiten lang nur eine filmwissenschaftliche Abhandlung über die zwölf Kurzfilme eines von Auster erfundenen Regisseurs bekommt, oder er detailliert die Übersetzungsarbeit an einem weiteren fiktiven Werk schildert. Doch durch diese Einblicke in das Werk des Autoren Zimmer gewinnt nicht nur dieser an Kontur, auch das ganze Buch und sein Universum erwecken zum Leben. Ein Film wie Mr. Nobody läuft vor dem inneren Auge des Lesers ab, auch wenn Auster eben kein Einstellungsprotokoll darbietet, sondern es eher schwierig macht, sich den Film im Kontext seiner Entstehungszeit (1928) vorzustellen.

Ein wenig erinnert die Suche nach dem legendären Filmregisseur und -Star an Seths geniale Graphic Novel "It's a Good Life if you don't weaken", bei der durch die vorgetäuschte autobiographische Authentizität und die getürkten Illustrationen des angeblichen "New Yorker"-Karikaturisten Kalo die eigentliche Tiefe des Werkes lange Zeit verborgen blieb. Doch auch, wenn man nicht wirklich auf die Idee kommt, hector Mann könnte mehr als eine clevere Erfindung Austers sein - durch die detaillierten Schilderungen seiner Filme wird er lebendig. Als Mensch und als Künstler.

Im siebten Kapitel, das das zweite sozusagen spiegelt, erleben wir mit den Augen Zimmers einen im Verlauf der Geschichte neuentdeckten Film namens The Inner Life of Martin Frost (1946), und auch hier wird es klar, daß der Schilderung des Films besser ist als jeder Film, wie er zu der Zeit hätte entstehen können. Auster nimmt sozusagen Barton Fink und Swimming Pool vorweg (letzterer entstand ja tatsächlich erst nach dem Roman), färbt den Film aber mit den typisch Austerschen Komponenten. Wobei … - eigentlich ist es nicht der eine oder andere Film, der für jene "Musik des Zufalls" steht, die bei Auster immer wieder eine Rolle spielt. Erst durch die Synergien zwischen dem Leben von Zimmer und Mann (die Namen verraten dem deutschen Leser wahrscheinlich mehr als dem englischsprachigen), zwischen den im Buch entstehenden (und vergehenden) Werken - und natürlich jede Menge tragische Zufälle, Schuld und Sühne, fast melodramatische Zuspitzungen der Ereignisse - machen aus "The Book of Illusions" einen Meilenstein im Werke Austers, der viele frühere Tendenzen exakter festmacht - und uns bereits an diesem Punkt auf das bisherige Werk Austers in verklärender Weise zurückblicken lässt - ganz wie auf die Bücher von David Zimmer oder die Filme von Hector Mann.