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Dezember 2004 Frank Schäfer
für satt.org

Die große März-Kassette
Herausgegeben von Jörg Schröder und Bruno Hof
area Verlag 2004

Jörg Schröder, Bruno Hof: Die große März-Kassette

13 Bände, 49,95 €
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Literarisches Eldorado
Die große März-Kassette


"Gute Literatur muss abgeschafft werden, das heißt, was wir immer so unter guter Literatur verstanden haben", erklärte Jörg Schröder 1969. Im selben "Interview mit einem Verleger" (in "MÄRZ Texte 1") bekennt er sich zu den jungen amerikanischen Autoren, bei denen durchaus "eine ätzende Kritik an ihrer Gesellschaft da ist, aber sie gebärdet sich eben nicht so theoretisch, sondern sie verfährt in ihrer Kritik subjektiv." Diese beiden Statements sind die Grundpfeiler für Schröders Programm. Während Siegfried Unseld bei Suhrkamp die kritische Theorie verlegte, das theoriebleiche Knochengerüst der deutschen Linken, lieferte Jörg Schröder im Wortsinne das Fleisch – nicht zuletzt Pornographie! Zunächst beim Melzer Verlag und dann ab 1969, nach seinem spektakulären Abgang – nur eine Etage tiefer – im eigenen Laden: MÄRZ (bzw. dessen Imprint Olympia Press).

Aber eben nicht nur das. Zwischen den notorischen postgelben Deckeln mit roten und schwarzen Lettern, übrigens ein Geniestreich Schröders in Sachen Corporate Identity, passte vieles, wenn es nur Underground, Gegenkultur, Avantgarde, einfach anders war als der zeitgenössische Mainstream. Anders im Sinne von Leslie A. Fiedlers berühmtem "Playboy"-Aufsatz "Cross the Border, Close the Gap", in dem Fiedler eine neue anti-akademische, exaltierte, entgrenzte, nicht zuletzt Trivialgenres einbeziehende Literatur fordert. Fiedler nennt sie "postmodern", und das war sie auch, aber eben nicht im Sinne der apolitischen, ästhetizistischen Gelehrten-Postmoderne der 80er Jahre etwa eines Umberto Eco.

Der Pilotband "MÄRZ Texte 1" und zuvor schon "Acid", die von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla besorgte maßgebliche Kompilation der US-Counter-Culture jener Jahre, gaben die Richtung an. Schröder veröffentlichte hier, bisweilen sogar erstmals auf deutsch, die mittlerweile zu Klassikern avancierten Autoren der Beat- und Post-Beat-Ära: Donald Barthelme, Ted Berrigan, Joe Brainard, Charles Bukowski, William S. Burroughs, Marshall McLuhan. Natürlich auch Fiedler, Frank O’Hara, J. G. Ballard, Mary Beach, Leroi Jones etc. Und nicht zuletzt ihre deutschen Adepten, allen voran Brinkmann und nur wenig später auch Wondratschek, mithin die erste Generation dessen, was man dann bald Popliteratur genannt hat. Ich frage Jörg Schröder, wo die Unterschiede liegen zwischen dieser und der nunmehr dritten Generation, der Krachts, Stuckrad-Barres, Leberts.

Jörg Schröder: "In der Qualität – das ist der Unterschied."
Aber trotz der unbestreitbaren Qualität der MÄRZ-Publikationen konnte der Verlag sich nicht dauerhaft durchsetzen, er hat seine Zeit entscheidend mitgeprägt und scheint mit ihr untergegangen zu sein. Gibt es da einen Zusammenhang zur konservativen Wende – schon in den Siebzigern mit der Regierung Schmidt, aber dann vor allem in den Jahren des Kohl-Regimes?
Jörg Schröder: "Nein überhaupt nicht. Der erste MÄRZ Verlag ging nach vier Jahren Bankrott, weil der Verlag und ich damals Opfer eines Frankfurter Spekulanten wurden. Der zweite MÄRZ Verlag im Vertrieb von Zweitausendeins feierte seine größten Erfolge auf dem Höhepunkt der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt, mit 300.000 verkauften Exemplaren von Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest‘, 100.000 von Vespers Reise‘, 80.000 von Fee Zschockes Er oder ich‘, noch mal 150.000 von Amendts Sexfront‘ und vielen anderen Titeln mit zwischen 15.000 bis 30.000 verkauften Exemplaren. Das ging so lange gut, bis Lutz Reinecke alias Kroth von Zweitausendeins auf den sektiererischen Weltuntergangstrip kam und zusätzlich anfing, an die kleinen grünen Männchen zu glauben. Da war für mich Schluss, denn das Leben ist zu kurz, um es mit intelligenten Dummköpfen zu verschwenden. Die dritte Phase des MÄRZ Verlags endete tatsächlich auf dem Höhepunkt der Regierungszeit des Spendenkanzlers Helmut Kohl. Da ging es dem Verlag ökonomisch nicht so gut, aber das wäre zu überbrücken gewesen. Nicht gebypasst werden konnten zu diesem Zeitpunkt meine vielfach verengten Herzkranzgefäße – die Medizin war noch nicht so weit –, deshalb mussten wir 1987 den Laden wegen anhaltender Schwäche des Verlegers dicht machen. 1990, nach diversen Operationen, fingen wir dann zum vierten Mal an: mit dem MÄRZ Desktop Verlag und Schröder erzählt. Davon sind inzwischen 50 Folgen erschienen. Die bisher befriedigendste Arbeit als Verleger und Schriftsteller."

Vor kurzem ist nun im jungen Area Verlag neben einem recht splendiden Reprint von "Acid" (14,95 Euro) "Die große MÄRZ-Kassette" (49,95 Euro) erschienen, die auf 13 Bänden verteilt 22 wesentliche Titel aus dem immerhin gut 280 Originalausgaben starken Fundus wiederveröffentlicht. Man erinnert sich jetzt an den Verlag als Exponenten, als Symptom einer Epoche. Schröder indessen insistiert auf der Aktualität der Bücher.

Jörg Schröder: "MÄRZ ist mehr als Marx und Coca Cola, sein Spektrum ist breiter, wie die Kassette zeigt. Von postmoderner Prosa, Lyrik, Comics geht es zu emanzipativen Texten zur Sexualität. Es gibt einen Erotik-Reader, aber auch Beziehungs- und Kinderbücher. In der Kassette stehen Werke aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts wie die Sozialreportagen von Upton Sinclair und aus dem 19. Jahrhundert der große operative Kommune-Roman von Jules Vallès, dessen autobiographische Trilogie Jacques Vingtras‘ zur Weltliteratur gehört. Bei einer solchen Bandbreite kann man nicht mehr von Retro-Pop reden. Die MÄRZ-Kassette ist also symptomatisch wie jedes darin enthaltene Buch. Das MÄRZ-Konzept ist auf einen Nenner gebracht: Vielfalt, Spaß und Emanzipation. Vielfalt und Spaß sind immer aktuell, Emanzipation gegenwärtig weniger – sollte sie aber sein! Und deshalb kommen diese Titel jetzt genau zur richtigen Zeit wieder neu heraus."

Schröder hat natürlich recht, und die Neuauflage einiger Bücher war wirklich an der Zeit. Neben dem schon erwähnten ersten Buch im typischen Outfit, "MÄRZ Texte 1", ist nun auch der lange vergriffene Pop-Reader "Trivialmythen" wieder lieferbar, zu dem Brinkmann eine lange Fotostrecke von seinen unmittelbaren Lebensverhältnissen beisteuert, die so gut wie nicht auslässt, nicht mal die Scham seiner Frau Maleen. Joe Brainards abstruses, witziges und das Genre drogistisch transzendierendes Comic-Buch "1984" ist dabei, die Songsammlung von Leonard Cohen "Blumen für Hitler", die legendäre Aufklärungsfibel "Sex Front" von Günter Amendt und auch Schröders Skandalbuch "Siegfried", die zunächst aufs Tonband delirierte, von Ernst Herhaus dann transkribierte und sanft überarbeitete Generalabrechnung mit dem Literaturbetrieb der 60er Jahre. Es sind auch verzichtbare Bände dabei, der ganze Beziehungs-Schmonz von Uve Schmidt und Fee Zschocke und die alternativen Kinderbücher "Als die Kinder die Macht ergriffen", aber das ändert ja nichts: Zum Preis eines guten Abendessens tut sich hier ein literarisches Eldorado auf, das man nicht so schnell lesend durchquert hat.