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Januar 2005 Patrick Baumgärtel
für satt.org

Denis Johnson:
Train Dreams

Novelle. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell
Mare Buchverlag, Hamburg 2004

Umschlag

114 S., 18 Euro
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Denis Johnson:
Train Dreams

Der ewige Wilde Westen
Denis Johnson Novelle "Train Dreams" erzählt von Zügen, Träumen und der Kürze der Welt

"Die Tiere trabten auf die unberührte weiße Fläche und wühlten einen Schneenebel auf, der zuerst sie selbst in sich verbarg, dann die ganze Welt nördlich des Flussufers verschluckte und schließlich hoch genug aufstieg, um Sonne und Himmel zu verhüllen." Die Verdunklung, verursacht durch eine Kuhherde, die auf einer Eisscholle den Fluss hinabtreibt, und die auch die am sicheren Ufer stehenden Holzfäller in sich einschließt, ist ein erster Vorschein – möchte man beinahe sagen – auf die Welt, wie sie von dem Amerikaner Denis Johnson in "Train Dreams" beschrieben wird. Es ist eine Welt, die – wir bleiben bei der Lichtmetaphorik – von europäischer Aufklärung oder der platonischen Erhellung durch das Scheinen der ewigen Vernunft noch nichts gehört hat. Dass sich die Schicksale der Tiere und Menschen darin gar nicht besonders stark unterscheiden, meint man aus dem Bild auch lesen zu können. In der Sprache der ansässigen Indianer "heißen Tiere wie Menschen." Homo homini vacca? Wohin treiben wir? Wer trägt uns? Es ist eine kreatürliche und gewalttätige Welt, die uns der Autor, ein bekennender Christ, in dieser Erzählung vom "zähe[n] Volk der nordwestlichen Berge" vorstellt und die dem Leser eine Ahnung gibt, woher der Begriff Wilder Westen’ ursprünglich rühren mag – von einer vormodernen, in ihrer Verworfenheit und Beschränktheit unveränderlichen Menschheit, die man sich am besten in Bildern Hieronymus Boschs vorzustellen hat.

Erzählt wird in dem einer Novelle gemäßen zurückhaltenden und nüchternen Berichtstil. In dem sprachlich famos gestalteten Wechselspiel von oberflächlicher Klarheit und Schönheit und tieferliegender Opazität findet sich das Diorama des scheinbar so einfachen Lebens Robert Grainiers als Holzfäller und Fuhrmann im amerikanischen Nordwesten zu Beginn des 20. Jahrhunderts entworfen. Es gerät zu einer kleinen Zeitgeschichte des Todes.

Zu Beginn hilft Grainier aus einem grausamen Instinkt heraus beinahe dabei, einen chinesischen Dieb zu töten. Nachdem dieser entkommen konnte, wundert sich Grainier weniger über seine Tat, als dass er sich über dessen Flüche ärgert, von denen er sich daraufhin sein Leben lang verfolgt glaubt. Als Kind war er von seinen Eltern in einen Zug gesetzt worden, um den Hals ein Schild mit den Lettern des Reiseziels. Niemand weiß, wo er herkommt oder wie alt er ist. Jeden Sommer verdient sich Grainier sein Geld als Holzfäller in Washington. Dort sagt sein Kollege Arn Peeples, ein Sprengmeister, eines Tages sein eigenes – angesichts seines Berufes unwahrscheinliches – Ende voraus, als er die Bäume "Mörder" nennt: Er wird von einem herabfallenden Lärchenast tödlich getroffen. Merkwürdige Krankheiten stellen sich ein. Aus Angst vor einer Grippe-Epidemie werden die Arbeiter nach Hause geschickt. Grainier heiratet Gladys, die er, der Frauen ansonsten eher befangen gegenübersteht, beim Methodisten-Gottesdienst im Ort kennen gelernt hat. Beide richten sich eine Hütte ein und bekommen ein Kind, Kate. Eines Tages bricht im Tal ein Feuer aus und Gladys und die junge Kate kommen ums Leben. Nach einiger Zeit baut Grainier eine zweite Hütte. Der Indianer Kootenai-Bob wird betrunken vom Zug erfasst. Grainier hat Visionen. Aus Einsamkeit heult er jede Nacht wie ein Wolf. Er sieht Gladys, die ihn in seiner Hütte von ihrem Tod erzählt. Eines Tages taucht Kate auf. Sie hat überlebt, ist aber jetzt ein "Wolfsmädchen", dessen Verletzung Grainier zu heilen versucht, bevor sie wieder in den Wald flieht. Einmal sieht er beinahe Elvis, wie er aus dem Zug grüßt. Über achtzigjährig stirbt er in seiner Hütte; nach einem halben Jahr wird er gefunden.

In "Train Dreams" steht der Gott des Christentums auf dem Prüfstand – und er versagt: "Wenn Gott der Herr nicht einmal das Buch seines eigenen Wortes zu schützen vermocht hatte, bewies das in Grainiers Augen, dass hier ein Feuer gewesen sein musste, das stärker war als Gott." Die Erfahrungen Grainiers scheinen nicht vereinbar mit dem aus Europa importierten, naturfernen Gott der Dreifaltigkeit. Kirchenlieder machen ihn traurig. An seine Stelle treten die offenen heidnisch-magischen Vorstellungen der Indianer, nach denen es z.B. Kreaturen gibt, Halbwölfe, "die Gott nicht geschaffen hat", und wonach die Welt womöglich kurz vor der Übergabe an den Satan steht. Zu ihnen gehört die Verwandtschaft von Mensch und Tier genauso wie die Visionen, Halluzinationen und Träume, die Grainier hat, die ihn mit der ihn umgebenden Natur verbinden und aus denen er seine Stärke bezieht, da er sich in ihnen der Präsenz seiner verstorbenen Geliebten und seiner eigenen Identität versichern kann. Die Verbundenheit mit dem Ursprünglichen und Nächstliegenden, Grainiers stoisches naturae convenienter vivere’, bestimmt auch sein Verhältnis zu den Verlockungen moderner Mobilität. Grainier, an dessen Lebensbeginn die Fahrt mit der Eisenbahn steht, der in seiner ersten Lebenshälfte regelmäßig durch drei Bundesstaaten reist, der 1927 auf dem Jahrmarkt mit einem Flugzeug fliegt, bleibt sein Leben lang dem Stück Erde verhaftet, das er für sich und seine Familie gekauft hatte, auch als nach dem Feuer nichts mehr daran erinnerte. Obwohl einige Male nur wenige Meilen davon entfernt, sieht er nie den Pazifischen Ozean. Womöglich interessiert der ihn auch gar nicht. Die technisch-wissenschaftlichen Allmachtsfantasien der modernen Gesellschaft stoßen in Grainiers beschränkter Weltsicht und seinen spirituellen Bedürfnissen an ihre Grenzen: auch sie sind nichts als "Träume", entworfen von Menschen, die in ihnen Eitelkeiten pflegen, denen sie nicht gewachsen sind. Könnte Grainier sein Denken ausdrücken, würde er es wohl wie Lévi-Strauss in die Worte fassen, dass "eine wohlgeordnete Humanität nicht mit sich selbst beginnt, sondern die Welt vor das Leben setzt, das Leben vor die Menschen und die Achtung vor anderen vor die Selbstliebe." Davon ist die Menschheit im Moment der Erzählung und auch heutzutage weitest möglich entfernt. Entsprechend wird am Ende des Buches vom Erzähler bei einer Theatervorstellung eines verkleideten Wolfsjungen in einer apokalyptischen Vision das Ende der Welt heraufbeschworen: "Und auf einmal wurde alles schwarz. Und jene Zeit war auf immer vorbei."