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Januar 2005 | Anne Hahn für satt.org | |
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Das Messer im Rücken„‚Und was haben Sie in London gemacht?’ ‚Ich bin tanzen gewesen’, antworte ich mit einem müden und ausdruckslosen Gesicht und in einem noch resoluterem Ton als sie, während ich ihr direkt in die Augen blicke. ‚Finden Sie das witzig?’“ Suad Amiry war nicht in der Stimmung, der israelischen Sicherheitsbeamtin, die in einem Verhörzimmer des Tel Aviver Flughafens über ihre Einreise nach Israel befinden sollte, zu erzählen, dass sie mit Freunden in Schottland Urlaub gemacht hatte. Sie ist eben tanzen gewesen. Mit dieser Episode beginnen die Tagebuchaufzeichnungen der Palästinenserin Suad Amiry. Sie beschreibt ihr Leben in Ramallah zwischen November 2001 und September 2002. In dieser Zeit rückte die israelische Armee mehrmals in die Stadt ein, besetzte sie und zog sich schließlich wieder zurück. Die Architektin und Universitätsdozentin Amiry flechtet in das Tagebuch der Besetzung ihre Familiengeschichte und den anstrengenden Alltag mit ihrer tyrannischen Schwiegermutter ein, die vierunddreißig Tage lang bei ihr lebt. Während Amiry auf selbstironische und höchst sympathische Weise Splitter des gewöhnlichen Wahns aus dem Land des neuen Mauerbaus wiedergibt, versuchte sich ein palästinensischer Kolumnist, der heute bei Jerusalem lebt, an einem autobiografischen Roman. „Tanzende Araber“ ist genaugenommen gar kein Roman. Es ist eine etwas lang geratene Aneinanderreihung von Erzählfragmenten ausschließlich autobiografischen Charakters. Solange es um die frühe Kindheit des heute knapp 30jährigen Kashua geht, mag ein gewisses Lesevergnügen aufkommen. Aber als das begabte Kind auf ein israelisches Internat in Jerusalem geschickt wird, fangen seine Identitätsprobleme an. Und die des Lesers. Kashua will für einen Juden gehalten werden. Aus dem tatsächlichen Problem des kleinen Jungen wird im Laufe der Jahre ein Trauma, ein paranoides Geflecht, aus dem sich der Autor nicht befreien kann. Er täuscht sich und seine Umgebung, verstellt sich, verzagt. Und jammert. Nach etwa 200 Seiten quält der Autor uns mit Erkenntnissen wie: Ich „bin voller Hass. Ich hasse meinen Vater, weil ich seinetwegen das Land nicht verlassen habe, denn er hat uns gelehrt, dass es besser ist, auf unserer Erde zu sterben“. Oder: „Sie sollen nur nicht meine Frau anschauen. Hätte ich nicht eine finden können, die ein bisschen heller ist? Sie versucht, die Kleine auf arabisch zu beruhigen und ich schreie sie an, sie soll den Mund halten, wenn sie am Leben bleiben will“. Es kommt noch schlimmer: „Jedes Mal, wenn ich in die Küche gehe, beschließe ich, dass ich eine Geliebte brauche. Sogar meine Frau weiß es schon … Meine Frau hält Schmutz nicht aus, aber mit mir hat sie keine Chance. Ich bin schuld. Alles wegen mir. Ich helfe ihr nie, nicht bei der Hausarbeit und nicht mit der Kleinen. Meine Frau sagt, ich sei primitiv, und ich muss ihr Recht geben.“ Die Ehefrau und Tochter bleiben namenloser Anhang eines verstörten Suchenden. Abzüglich aller wohlmeinenden Gedanken an die schwierige Lage des Autors, seiner speziellen politischen, religiösen und sexuellen Situation bleibt ein schaler Geschmack. Ohnmacht und Selbsthass, ohne jeden Funken von Hoffnung und Humor. Nun kommen wir zu etwas ganz anderem. Susannah, Hauptfigur und Ich- Erzählerin im Debütroman der Jüdin Alona Kimhi hat Probleme. Ganz eigener Natur. Sie lebt mit ihrer übermächtigen Mutter in einem Vorort Tel Avivs und krankt am Leben. Der Roman beschreibt einige Monate aus dem Kosmos dieser beiden Frauen. Besuch erscheint. Susannahs Cousin aus Amerika bringt das fragile Gleichgewicht zum Einsturz. Aus der passiven, beobachtenden jungen Frau wird allmählich ein eigenbestimmter Mensch. Das ist wunderbar mitzuerleben, denn Susannahs stumme Autoaggressivität traktiert den Leser zunächst. Aber bei alledem pflegt die Autorin einen erfrischenden Sarkasmus: „Im Gegensatz zu mir engagieren sich meine Mutter und Nechama unermüdlich für den Frieden im nahen Osten. Wenn sie nicht wären, wir alle würden längst mit einem Messer im Rücken auf dem Meer dahintreiben oder ab fünf Uhr früh Thora lernen und uns mehren, indem wir durch ein Loch im Leintuch vögeln.“ Während Susannah allmählich ihr Leben in die Hand nimmt, telefoniert Suad Amiry mit George Bush. „’Herr Präsident … ich rufe Sie von Ramallah aus an.’ ‚Von wo?’ ‚RAMALLAH … aber das ist nicht so wichtig, Herr Präsident, ich rufe Sie an, um Ihnen mitzuteilen, dass Israel uns under curfew hält, wir leben unter Ausgangssperre seit …’ Ich werde sofort unterbrochen. „Carefree, yes, carefree, oh ja, frei, ich weiß, meine Berater haben mich darüber informiert, das Israel dass einzige freie und demokratische Land der Welt ist, das heißt natürlich wir auch, wir beide …’” Es bleibt zu wünschen, dass Suad Amiry sich bald an eine Prosaarbeit
wagt, die den wunderbaren komplexen Romanen der jüdischen Autorinnen Israels
auf gleicher Augenhöhe begegnen würde. Savion Liebrecht, Mira Magen,
Zerua Shalev und nun auch Alona Kimhi haben bewiesen, dass Grenzen nicht zwischen
Menschen verlaufen, sondern in ihnen. Und dass diese Zäune eingerissen
werden können. |
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