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Januar 2005 | Ní Gudix für satt.org |
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| »IL FAUT ÊTRE
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* Aus Arthur Rimbaud: Das poetische Werk. Frankfurt 1980. An die kongeniale TransLITERAtion von Hans Therre und Rainer G. Schmidt habe ich mich fast immer gehalten, weil man Rimbaud kaum besser übersetzen kann. |
Man kann diese Zeilen verstehen oder auch nicht, aber entscheidend ist, daß der in ihnen ausgedrückte Appell zur De-Entfremdung in nahezu jedem linksalternativen Stück Kulturkritik auftaucht, z.B. in dem Essay "SPRACHE IST EIN VIRUS" von Jürgen Ploog. Daran ist zu erkennen, wie aktuell und dringend Rimbauds Appelle immer noch und nach wie vor sind, vor allem jetzt, in der "modernen" (??) Flachwelt der Medienkommunikation, wo Leute, die wirklich etwas zu sagen haben, in Nischen gepfercht werden, während vorne wie immer die Labertaschen und Großschwätzer rumstehen, die nur in ihrem eigenen Dreck rotieren. Zu beachten sei, daß Rimbaud mit seinem "die Maßlosigkeit wird zum Maß" nicht von unserem aktuellen Zustand des "Alles ist möglich" spricht – wer das assoziiert, der hat den wichtigen Hinweis auf die Seelenbildung überlesen. Rimbaud will keine enthemmten Neurotiker, wie er sie später zuhauf kennenlernte – er will Leute, die das Leben als konkretes Handlungsfeld auffassen, die Erfahrungen machen und die dann aus diesen Erfahrungen zu lernen bereit sind. Diese Vision ist zutiefst humanistisch. WENN DIE LITERATUR NICHT RADIKAL NACH VORNE AUS DER SCHEISSE HERAUSFÜHRT, WOZU SOLL SIE DANN ÜBERHAUPT GUT SEIN? Exit Only. Progression heißt nichts weniger, als daß man das, was man einmal als dumm, unmenschlich, verlogen erkannt hat, hinter sich läßt und nicht weiter perpetuiert. Rimbaud hat gespürt, daß eine wirklich kompromißlos mit überkommenen Schablonen brechende Literatur nicht mehr länger begleitender, aber im Grunde überflüssiger Wurmfortsatz einer regressiven Scheuklappenkultur wäre, sondern diese Scheuklappenkultur von Grund auf ausmisten würde. Und als er sah, daß sich auf dieses radikale Wagnis, diese ungeheuerliche Mission niemand außer ihm, nicht einmal Izambard und Verlaine, so richtig einlassen wollten, da sagte er: Na schön, dann halt nicht! Wenn ihr keine "absolument moderne" Literatur haben wollt, dann lassen wir das Projekt sein. Eure Wurmfortsatzliteratur braucht niemand. Ich auch nicht. Adios! – Sprach es und verschwand und stopfte seine zusammengeknüllten Gedichte ins Klavier. Das "Ende der Utopie", von dem Marcuse 1967 sprach, war noch nicht gekommen.
Paul Verlaine, einer der wenigen zeitgenössischen Dichter, denen Rimbaud für die Gegenwart das Prädikat "Seher" verleiht, lädt den jungen Rebellen im September 1871 nach Paris ein, das Geld für die Zugfahrt schickt er gleich mit. Rimbaud zieht bei Verlaine und seiner Frau im Montmartre ein und wird von Verlaine in den Dichterzirkeln der Parnassiens eingeführt. Doch bald kommt die kalte Dusche: diese Dichter, von denen er sich so viel poetische Revolution erhofft hatte, ruhen sich auf ihren Versen aus wie die Schulmeister von Charleville auf ihrem Kathederwissen, und Verlaine betreibt keine "bewußte Entregelung aller Sinne", nein, er ist ein klassischer Alkoholiker, der sich in seiner Bürgerlichkeit verschanzt und sich zufuselt, um zu vergessen, was für eine jämmerliche Existenz er führt. Verlaine ist zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt, und wenn Rimbaud nicht gewesen wäre, wäre er wohl noch in seinen frühen 30ern depressiv am Fusel eingegangen. Rimbaud aber wittert in ihm die "âme eternelle", den Werwolf, dessen Entdeckerqualitäten nur brachliegen, und macht Verlaine zu seinem Höllengefährten.
Verlaine ist bald auch der einzige in Paris, der noch zu Rimbaud hält; bei den Dichterzirkeln der "Villains Bonhommes" hat Rimbaud schnell verschissen, nachdem er bei einer Lesung laut "Merde!" brüllt. Die prominenten Poètes Parnassiens können mit dem radikalen Blondschopf, dessen Haare nun nicht mehr adrett frisiert sind, sondern störrisch zu Berge stehen, nichts anfangen.
Und bei Verlaines hängt der Haussegen schief, da sich Paul lieber mit Rimbaud zu Sauf- und Hasch- und Opiumorgien in der Stadt herumtreibt, statt sich um seine Frau und sein Neugeborenes zu kümmern. Verlaine und Rimbaud, das Höllengespann. Im Herbst 1872 – nachdem Verlaine, dessen latente Aggressivität und Gewalttätigkeit im Suff immer wieder durchbricht, versucht hatte, seine Frau zu erwürgen – brennen er und Rimbaud zusammen nach London durch. "Lesen und Trinken. Trinken und Lesen. Dazwischen Essen und Schlafen als bittere Notwendigkeit und Laufen als süßer Luxus" (zit. nach Henning Boetius: ICH ist ein anderer – Das Leben des Arthur Rimbaud, Frankfurt 1995, S. 170).
Sie leben hauptsächlich von dem Geld, das ihnen die "Blindschleiche", Verlaines Mutter, schickt. Verlaines Frau Mathilde fürchtet natürlich, daß die beiden in London Schwulitäten treiben, und droht wieder die Scheidung an. Nach weiterem Hin und Her kommt es im Sommer 1873 in Brüssel zum Eklat: Verlaine, stinkbesoffen, fuchtelt mit einer Pistole herum und schießt Rimbaud im Beisein der Blindschleiche in die Hand. Daraufhin wird er verhaftet und fährt erstmal für zwei Jahre in den Knast, wo zwei Wunder geschehen: er wird trocken und katholisch.
Für Arthur Rimbaud sind hiermit die Lehrjahre beendet, und die ersten Früchte des Sich-Sehend-Machens, des "arriver à l’inconnu par le dérèglement des TOUS les sens" sind reif: Rimbaud fühlt sich jetzt, nach einigen seelenbildenden Abenteuern, fähig für wahre Poesie. Er verschanzt sich im Bauernhof der Mutter in Roche auf dem Dachboden und schreibt "Une Saison en Enfer", die Zeit in der Hölle, das einzige Buch, um dessen Druck er sich selbst bemüht. Im konventionellen Literaturwissenschaftsjargon kann man natürlich sagen: Er habe darin versucht, seine Beziehung zu Verlaine aufzuarbeiten. Aber es ist mehr, viel mehr! Die "Saison en Enfer", das ist ein Juwel in experimenteller Prosa voller Wahrheiten. Wenn mir der Literaturbetrieb mal wieder zu hohl, zu aufgeblasen, zu sehr dominiert vorkommt von Weichspülrevoluzzern, Biomüllneurotikern und visionslosen Phrasendreschern, dann schlage ich meine "Saison en Enfer" auf. Und ich weiß wieder, wo ich stehe. Die "Alchimie du verbe" zum Beispiel. Und "faim, soif, cris, danse, danse, danse, danse! En marche!" Es gibt eine Anekdote, wonach Rimbauds Mutter das Manuskript zur Hand nahm und den Kopf schüttelte und sagte: "Aber Junge, was soll das denn bedeuten?" Und Rimbaud sagte: "Nichts weniger als das, was da steht." Genauso ist es. Progression der dekonditionierten Sprache. Thomas Collmer hat in seinem Buch "POE ODER DER HORROR DER SPRACHE" (MaroVerlag, Augsburg 1999) einige wesentliche Interpretationen dazu geliefert.
Dann beginnen die Wanderjahre. Rimbaud läuft. Quer durch Europa. Zu Fuß. Er hatte keine spezielle Ausrüstung, er hatte nicht mal Geld. Er lief mit Schnürstiefeln an den Füßen, einem ramponierten Zylinder, seinem "Merlinhut", auf dem Kopf, der Pfeife im Mund und einem Stock in der Hand durch Deutschland, durch Belgien, über die Alpen nach Italien. Die Sprachen lernte er beim Laufen. Reisen, Vorwärtsschreiten, nirgends länger als unbedingt nötig verweilen, das Bilden des Geistes kann nicht exzessiv genug sein! Er schloß sich einer Zirkustruppe an und vagabundierte in Skandinavien herum. Helsingör, Norwegen. Schottland. Wien, Gibraltar, Rotterdam, Neapel, Suez, Aden. Dann Harar. Wenn er irgendwo eine Anstellung annahm, so nur aus existentieller Not. Hunger, Erschöpfung und Geldknappheit begleiteten ihn sein ganzes Leben lang. Bei den Zirkusleuten arbeitete er als Ticketabreißer, in Zypern als Palastbauaufseher, in Afrika als Kameltreiber, später als Waffenhändler. Daß er sich diesen Job nicht ausgesucht hat, daß er nicht etwa, wie manche Alternative deuten, zum Establishment übergelaufen ist, zeigen seine Briefe nach Charleville: "Meine Arbeit ist absurd und unmenschlich … Ich hoffe sehr, daß dieses Leben hier aufhört, bevor ich noch völlig verblöde … Man muß es ganz schön nötig haben, sein Brot zu verdienen, um sich in solchen HÖLLEN anstellen zu lassen! So wird man in wenigen Jahren zu einem 100%-Deppen!"
Die Literaten in Paris registrieren nur sein Verstummen und fangen langsam an, ihn zum "früh vollendeten Genie" hochzustilisieren. Manche tun so, als ob er bereits tot wäre; manche deuten sein Verstummen als Rückzieher, als Flucht oder doch als ein Eingeständnis des Schei terns. Einerseits stimmt das, wenn man die "Saison en Enfer" mit ihren Appellen an das Schweigen ("Tais-toi! … Je voudrais me taire. … Je ne sais plus parler!") so liest, daß er nun doch das Gefühl hat, mit Sprache ist nichts zu verändern. Aber andererseits ist die "Ent-Regelung ALLER Sinne" doch eben ein lebenslanges Projekt, das durch das Schweigen nicht abgebrochen, sondern weitergeführt und vertieft wird. Schweigen ist eine Fortsetzung des Schreibens mit anderen Mitteln, "j’écrivais des silences". Wenn man das Gefühl hat, daß es noch zu sehen, zu hören, zu laufen gilt, dann sollte man das tun und nicht schwätzen. Handeln statt Labern. Das Vorstoßen zum Unbekannten, das "posséder la vérité dans une âme et un corps" (so lautet der letzter Satz der "Saison en Enfer"): Das ist das rimbaldeske Zen. "Écoutez! J’ai tous les talents!" ruft Rimb, und das heißt: Schreiben ist doch nur EINS davon, ist nur EIN Exzeß, EINE Seite des großen Ent-Regelungs-Projekts. Nach der "Alchimie du verbe" ist die Buchstaberei für ihn gegessen wie eine Droge, deren Wirkung man ausgekostet hat und die jetzt nicht mehr funktioniert. Sicher, er war auch und vor allem enttäuscht von der Literatur, und er merkte, daß sie eben immer noch Lichtjahre davon entfernt war, die Gesellschaft aus ihrer Eindimensionalität herauszuführen, aber das heißt nicht, daß er von seiner Vision zurücktrat. Wenn der 30jährige Rimbaud sich von den Visionen, die er als 17jähriger hatte, hätte distanzieren wollen, dann hätte er genausogut in Paris bleiben und als "geläuterter" visionsloser, aber berühmter Ex-Communarde leben, vielleicht sogar recht behaglich als Herausgeber seiner eigenen gesammelten Werke alt werden können im Stil vom alten Goethe. Jetzt bin ich zynisch. Aber so sehen Rückzieher aus: Kleinlaut zurück zum Un-Seherischen und Konstruktion eines Bruchs in der Biographie.
In Rimbauds Biographie aber gibt es keinen Bruch. Es gibt nur Abschnitte, Wegverbindungen, vielleicht mal kurz eine Unebenheit oder einen Tümpel, den es zu durchwaten gilt. Aber es geht immer vorwärts, genau wie auch Rimbaud selbst in seinen Märschen stets ausschritt. Seine Übersetzer Therre und Schmidt weigern sich sogar, überhaupt von irgendeiner Jahreszahl des Verstummens zu sprechen. Er schrieb ja Briefe und Reisenotizen, und wo ist da eine Grenze zu ziehen zu "literarischem" Schaffen? Rimbaud wollte eine neue Sprache schaffen, die alle Sinne umfaßt und auch die betriebseigenen kleinkarierten Gattungsgrenzen überwindet. In Afrika widmet er sich außerdem der Musik und der Fotographie (von ihm stammen einige der ersten Fotos der Landschaft Nordafrikas), und zeichnen tut er nach wie vor. Nach der Alchimie des Wortes folgt die des Bildes und der Töne. Sein Leben war nie einfach, und oft leidet er auch darunter, daß er eine so rast- und ruhelose Natur ist, daß er kein Ziel hat, kein Geld, keine Stellung; seine Briefe aus Afrika bezeugen dies.
1891 meldet sich sein Bein. La jambe de l’universe. Schmerzhafte Krampfadern und ein Knietumor sind die Folge von exzessivem Laufen. Rimbaud schreibt seiner Mutter, damit sie ihm Stützstrümpfe schicken möge, wird dann aber doch von Harar nach Marseille transportiert, wo er am 10. November nach der Amputation stirbt. Verlaine, der wieder dem Fusel verfallen war, überlebte ihn um fünf Jahre, das Krokodil starb erst 1907. Im selben Jahr wird in Charleville eine Rimbaudbüste enthüllt.
Was bleibt? "Die Nächsten-Liebe, das ist der gesuchte Schlüssel. Der Engelsgesang der Vernunft quillt vom Erlöser-Boot. Ich setze mich auf die oberste Sprosse der Engelsleiter des Gesunden Menschen-Verstands" (Saison en Enfer).
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