"Mutter trocknet sich die Hände an der Schürze ab, ihr Schatten löst sich von mir. Ich fühle, wie er die Kettendüne hinabgleitet und weiter auf dem Schleichweg Richtung Wasserturm. Die Sonne kriecht über meinen Rücken und in mein Haar. Meine Hand scharrt den Sand zur Seite, ganz vorsichtig, denn darunter ist es kalt und klebrig."
Da taucht sie das erste Mal wieder auf. Auf der Düne, nicht weit vom Elternhaus entfernt. Wouter hat seine Eltern verloren. Sie sind eines Nachts verschwunden. Der halbwüchsige Junge ist Analphabet und gleichzeitig Ich-Erzähler der Geschichte. Er hört und sieht die Eltern am letzten Abend ihres Lebens lachend in die Dünen gehen und beschreibt die Tage, Wochen und Monate nach diesem Ereignis aus der Sicht des verlassenen Kindes. Das gleichsam sehend wird.
"Heute wurde Vater beerdigt. Er hat das Land erreicht, während Mutter immer noch im Meer treibt, weit entfernt von der Küste und ganz allein. Weinend taste ich nach dem Nachttischchen. Ich krame in der Schublade, in der ich die Unterwäsche versteckt habe. Ich muss Mutter fühlen und riechen. Den weichen Stoff ans Gesicht drückend, lasse ich mich zurückfallen und wälze den Kopf auf dem Kissen hin und her. Noch ist Mutters Duft hier bei mir, doch er wird schon schwächer. Ihren Duft bewahren. Wie kann ich ihren Duft bewahren?"
Haasnoots Chronik des Verlustes der Brüder Wouter und Stijn, die allein in ihrem Elternhaus in Zeewijk weiterleben, ist anrührend. Während der ältere Bruder rasch das elterliche Schlafzimmer okkupiert und alle Spuren der Toten auszumerzen sucht, verkriecht sich Wouter zunehmend in eine Phantasiewelt. Er hört in seinem Zimmer Tonbänder, auf denen Tante Dien Bibeltexte rezitiert und schwelgt in seinen Erinnerungen. Bruder Stijn löst unterdessen das elterliche Kunsthandelgeschäft auf, lernt ein junges Mädchen kennen und lieben. Wouter weigert sich, arbeiten zu gehen. Die Schule hat ihn längst als hoffnungslosen Fall aufgegeben.
Soviel zur Handlung. Aber was macht Haasnoot daraus? Er lotet einen Schmerz aus, den zwangsläufig jeder Mensch im Laufe seines Lebens erfahren muss. Den Tod naher Angehöriger. Den Tod der Eltern. Ist er vielleicht besser zu verkraften, wenn er abstrahiert, plötzlich und unerklärlich vonstatten geht? Wouters Eltern sind nicht in Ruhe und Frieden gealtert, sondern auf unerklärliche Weise ertrunken. Der eine Bruder verdrängt das Ereignis, der andere versucht es spielerisch zu verarbeiten. Wouter nimmt die Geschehnisse mit geschärften Sinnen wahr, die Beisetzung des Vaters, die Worte von Tante Dien, unkerklärliche Anrufe eines Fremden, nächtliche Geräusche im Haus und das Auftauchen wertvoller Gemälde im Laden der Eltern.
Am stärksten gelingt dem Autor die Heraufbeschwörung der Mutter, die in Wouters Leben eine zentrale Rolle gespielt hat und spielt. Kann der Leser zunächst noch von einer Wunsch – Wahnvorstellung des Jungen ausgehen, verdichten sich bald historische Schilderungen des vom Meer verschlungenen Nachbardorfes Persijn mit dem Wiederauftauchen der Mutter. Ein mystischer Wald, der auf den Häuserruinen gedeiht, bietet der toten Mutter Schutz und Hort.
Das Steinkind Wouter, auch dieser Name ist eine Reminiszenz an die Mutter, durchlebt den Verlust mit aller Inbrunst. Mit kindlichem Vokabular erzählt, geraten Haasnoot Momente von einer atemberaubenden poetischen Dichte. Gerade durch die scheinbare Nichtbeherrschung der Schrift erhöht der Autor seine Hauptfigur, der Unwissende wird zum Sehenden.
"Wie von Zauberhand zieht es mich zu einer Stelle vorne am Waldrand. Halb verborgen hinter einem Baum steht eine Frau. Sie bückt sich und hebt etwas vom Boden auf. Dann erst sehe ich, wer es ist. Ich will aufspringen und zu ihr laufen, aber aus Angst, sie zu erschrecken, halte ich mich gerade noch zurück. Plötzlich begreife ich, dass es ein Wunder Gottes ist, dass ich sie hinter mir sehen kann, obwohl ich mit dem Gesicht nach unten im Moos liege …"
Robert Haasnot wurde in Amerika geboren und wuchs im niederländischen Fischerdörfchen Katwijk auf. Zuletzt erschien auf deutsch sein Roman "Wahnsee", der von einem so mysteriösen wie wahren Fall erzählt, bei dem während des ersten Weltkrieges die Schiffbesatzung des "Irrenkutters" Noordsters von einem dem religiösen Wahn verfallenem Matrosen auf Jerusalem Kurs nimmt.
In "Steinkind" kommt Haasnoot symbolisch auf das Ende einer Kindheit zurück. Die Geschichte des niederländischen Küstendorfes Zeewijk und den vereinzelten Fall einer Judenverfolgung verwebt er unaufdringlich ins Geflecht der Trauerarbeit des Jungen Wouter. "Steinkind" gemahnt an die Vergänglichkeit, an die Schwierigkeit, Erinnerungen zu bewahren, an den Wunsch, den Duft eines geliebten Verstorbenen noch ein wenig um sich zu spüren, die vertraute Gestalt noch ein, zwei Mal zu sehen …