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April 2005 | Marc Degens für satt.org |
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| The Punchliner #1
2003, nach zehn Jahren und zweiundvierzig Ausgaben, wurde "S.U.B.H." ("subhversiv, subhkultururell und subhper"), die aus der Social-Beat-Szene hervorgegangene Literaturzeitschrift mit umfangreichem Rezensions- und Nachrichtenteil, eingestellt. Schon damals kündigten die Macher ein Nachfolgemagazin an, letzten November ist es erschienen: "The Punchliner" Nr. 1. Im Vorwort erklären Axel Klingenberg und Andreas Reiffer, warum sie für ihre Literatur- und Satirezeitschrift einen englischen Namen wählten: "Ein 'Punchliner' ist ein Pointenschreiber, einer, der sich hinsetzt und sich was ausdenkt, damit Sie was zu lachen haben – aber 'Pointenschreiber' klingt so cool und sexy wie 'Polizeibeamter', 'Fahrkartenkontrolleur' oder 'Kaufhausdetektiv'. Leute mit derartigen Berufen will man nicht kennen und Zeitschriften mit solchen Namen will man auch nicht lesen." Im direkten Vergleich fällt zunächst die neue Aufmachung auf. "S.U.B.H." war ein geheftetes Copy-Zine mit Schülerzeitungslayout, "The Punchliner" ist ein kartoniertes Buch im gediegenen Gewand und mit professionellem Satz. Die Buchanthologie soll "unregelmäßig, aber mindestens einmal im Jahr" erscheinen – auf einen Termin- und Nachrichtenteil wird deshalb verzichtet. Auf immerhin zwölf Seiten werden in der Rubrik "Warenkunde" sieben Neuerscheinungen vorgestellt und empfohlen: Prosawerke von S.U.B.H.-Lesern vertrauten Namen wie Franz Dobler, Philipp Schiemann oder Nadja Sennewald, aber auch Lyrisches wie Ron Winklers Gedichtband "vereinzelt passagen". Es wäre wünschenswert, wenn "The Punchliner" diese Rubrik in Zukunft quantitativ noch ausbauen könnte – die Münsteraner, mittlerweile im 28. Jahrgang erscheinende Literaturzeitschrift "Am Erker", die durch ihren kompetenten und umfangreichen Rezensionssteil quasi unverzichtbar wurde, möge hier Pate stehen. Gerade für Autoren aus dem überwiegend alternativen Literaturraum gilt es, Verbindungs- statt Grenzlinien aufzuzeigen. Insofern ist die Rubrik "Revisited. Alte Texte – neu gelesen" lobenswert, auch wenn das Thema der ersten Folge (Bertolt Brecht) wenig originell ist. Neben Kolumnen von Frank Bröker und Jan Off und einer interessanten, aber viel zu kurzen Lebensbeschreibung Gottfried Benns bietet die erste Ausgabe des Punchliners Erzählungen gestandener Underground-Schreiber (Bdolf, Kersten Flenter, Jaromir Konecny), ergänzt von Werken aufstrebender Talente wie dem offensichtlich an Rattelschneck geschulten Witzzeichner Jürgen Marschal. Die Texte sind in der Mehrzahl lustvoll-ironisch, am Alltag orientiert, ungekünstelt, häppchenartig und lesebühnentauglich. Auch das ist eine Definition von Popliteratur. Die 90er Jahre waren die Zeit der Literaturfanzines, des Social Beats und der "außerliterarischen Opposition". Diese Ära ist unwiederbringlich vorbei, und viele machen das Internet dafür verantwortlich. Irrtümlicherweise, denn das Internet bietet sogar die idealen Voraussetzungen, um etwa die Lücke auszufüllen, die das Verschwinden von Josef Wintjes' Literarischem Informationszentrum in Bottrop und seine Zeitschrift "Impressum" hinterließen. Nein, die Schuld am Verschwinden tragen vielmehr der Wandel des etablierten Literaturraums und der damit einhergehende Verlust des Feindbildes. Social Beat war ein Kampfbegriff, der Gegner der offizielle Literaturbetrieb und seine Erzeugnisse: hermetische Lyrik, gespreizte Prosa, Stipendienwerke, die ganze Suhrkamp-Culture. Social Beat war vor allem eine Gesinnungssache – und die später mit dem Etikett "Popliteraten" versehenen Autoren unterscheiden sich ästhetisch und programmatisch meist gar nicht von ihnen, wie etwa auch Benjamin von Stuckrad-Barres Bewunderung für die Underground-Ikone Jörg Fauser verrät. Mit dem Popliteraturlabel Ende der 90er Jahre wurde diese Richtung schließlich mehrheitsfähig, der alternative Literaturraum verlor dadurch den Ruch des Subversiven und viel von seiner Attraktivität. Heute läßt sich schwer sagen, ob eine Erzählung aus "The Punchliner" oder "Der Freund", aus dem Feuilleton der Welt oder der jungen Welt stammt. Sogar die äußere Erscheinung läßt kaum noch Rückschlüsse zu – so hat die erste von der Schweizer Kulturstiftung geförderte Hochglanzausgabe des Züricher Popkultur- und Zeitgeistmagazins "Elend und Vergeltung", das sich selbst als "Fanzine" tituliert, nichts mehr mit den schlechtkopierten, handgetackerten Heften von früher gemein. Für den Leser ist diese Entwicklung erfreulich, denn sie gibt den Blick auf das Eigentliche, die Literatur, frei und lädt auf Schritt und Tritt zu Entdeckungen ein. Eine der spektakulärsten konnte man in der ersten Ausgabe des Punchliners machen … "Stefan Wimmer: 35, Münchner, arbeitete drei Jahre lang als Journalist und Fernsehproducer in Mexiko City, danach drei Jahre als Redakteur bei Playboy. Im Oktober erscheint sein erster Short-Story-Band 'Die 120 Tage von Tulúm' im Maas Verlag, Berlin" – so lautet die Autorenangabe zu der dort abgedruckten, irre komischen Erzählung "Die Karawane zieht weiter". Sie berichtet von den mannigfachen, aber letztlich vergeblichen Bemühungen des Ich-Erzählers, in Mexiko brauchbares Kokain zu beschaffen. Das Ergebnis ist eine elegant geschriebene und zum Brüllen witzige Erzählung. So etwas ist rar in Deutschland – und das Schönste ist, daß alle dreizehn Geschichten aus "Die 120 Tage von Tulúm" diese hervorstechenden Eigenschaften besitzen. "Anfang Dezember brach der Winter über Mexiko herein. Aus den Wüsten von Texas und Arizona fegten Eiswinde hinunter nach Süden, und die Temperatur in der Hauptstadt fiel auf drei Grad über null. Die Tage auf dem Hochplateau waren kalt, in den Nächten klirrte der Frost. Meine Wohnung – ein ebenerdiger, kellerloser Kubus, in dem man schon im Sommer kalte Füße bekam – verwandelte sich langsam in eine Gefrierbox. Zusammen mit dem Temperatursturz nahm auch die Luftverschmutzung extreme Ausmaße an. Aufgrund irgendwelcher Blockaden in den thermischen Schichten über uns kam die Luftzirkulation zum Stillstand, und die Giftgase stauten sich im Kessel von Mexiko City wie in einem Graben bei Verdun." Stefan Wimmer ist ein stimmungsvoller, unprätentiöser Erzähler mit dem Hang zu derben Vergleichen. Bei ihm haben manche Journalisten "einen ähnlich guten Ruf wie Reinhard Heydrich unter den Partisanen des 'Protektorats Böhmen und Mähren'" und ihm erscheinen manche Dealer so "ausgemergelt und mager wie Holger Meins am letzten Tags seines Hungerstreiks." Wimmer, den man aufgrund der Namensähnlichkeit nicht mit dem im Verbrecher Verlag veröffentlichenden Montageautor Stefan Wirner verwechseln sollte, schickt sein leichtlebiges Erzähler-Ich in den lose aufeinander aufbauenden Geschichten von München nach Mexiko und wieder zurück, sein bohemienhafter Held ist ein sympathischer Lucky Loser mit Ambitionen (Frauen, Uni-Karriere, Drogen) und der Lust am Scheitern. Auch wenn Stefan Wimmer mitunter am Schluß der Geschichten die erzählerische Schraube überdreht, ist "Die 120 Tage von Tulúm" eines der erfrischendsten, lustigsten und besten Erzähldebüts der letzten Jahre. |
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