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April 2005 Silke Winzek
für satt.org

Wilhelm Genazino:
Die Liebesblödigkeit

Hanser Verlag 2005

Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit
17,90 €  » amazon

Wilhelm Genazino:
Die Liebesblödigkeit

Wilhelm Genazino, Jahrgang 1943, veröffentlicht seit 1965. Letztes Jahr erhielt er den Georg-Büchner-Preis. Erst seit einiger Zeit haben seine Bücher vermehrt Einzug in die Buchläden gehalten. Die Kritikerschaft hat sich über seine letzten Romane vielfach positiv, sich teilweise überschlagend vor Lobhuldigung, geäußert.

Jetzt also "Die Liebesblödigkeit". Der Ich-Erzähler (ohne mitgeteiltem Namen) ist 52, er führt eine Existenz jenseits der gängigen Moralvorstellungen und schafft es, verschiedene Lebensentwürfe gleichzeitig zu leben. Er führt ein Einsiedlerleben in einer Junggesellenbude ohne Waschmaschine, wo er seiner persönlichen Vorstellung von Ordnung entsprechend lebt. Gleichzeitig unterhält er eine Beziehung mit der bodenständigen, häuslichen Sandra, 43, Chefsekretärin. Sie bekocht und bemuttert ihn, wäscht seine Wäsche, ist lebensbejahend unkompliziert. Bei ihr fühlt er sich geborgen. Sie führen, bis auf das fehlende Zusammenleben, eine Beziehung nach klassisch bürgerlichem Entwurf. Sein drittes Leben lebt er mit Judith, 51, einer ehemaligen Konzertpianistin. Sie kann auch seinen verschrobensten Gedankenkonstrukten Folge leisten und sie ist die Frau für ausgefallene Unternehmungen. Ansonsten ist sie vollkommen unhäuslich und verbringt ihre Zeit gern allein. "Judith braucht Glanz in ihrem Leben, Sandra vermisst keinen Glanz …. Ich finde es wunderbar, dass Judith Glanz braucht, und ich lobe Sandra, dass sie ohne ihn auskommt."

Auch beruflich bietet der Held ungewöhnliches: Er ist freischaffender Apokalyptiker, schreibt Artikel und hält Seminare über den Untergang der Menschheit ab. Dabei legt er Wert darauf, kein Universalapokalyptiker zu sein, ihn beschäftigt also nicht der pompöse Weltuntergang mit Klimakatastrophe oder Krankheitsepidemie, sondern sein Gebiet ist die Zivilisationsapokalypse, der alltägliche Wahnsinn, der langsam um sich greift und irgendwann zur Katastrophe führen muss.

Der Held führt ein erfülltes Leben, er hat für sich die perfekte Balance zwischen Einsamkeit, Zweisamkeit, Nähe und Abstand gefunden. Er liebt beide Frauen, zusammen befriedigen sie alle seine Bedürfnisse. Es ist das Schlaraffenland der Paarbeziehung. Und dennoch: Der Pessimismus, der sich in seiner Berufswahl ausdrückt, beherrscht auch seine Stimmung. Der fortschreitende Alterungsprozess macht ihm zu schaffen. Obwohl er die dauerhafte Liebe zu zwei Frauen als tief beglückend empfindet, glaubt er, sich wegen seines fortschreitenden Alters zwischen den Frauen entscheiden zu müssen. Er wägt zwischen beiden ab, entscheidet sich mal für die eine, mal für die andere -– und kommt immer wieder zu dem Schluss, dass er ohne beide Frauen nicht leben will.

Der Held hat im Laufe seines Lebens die Erkenntnis gewonnen, dass das von ihm gewählte, dreigeteilte Leben ihm die größte Zufriedenheit bringt. Der Weg der Selbsterkenntnis hat über die Ehe seiner Eltern (ein despotischer Vater, eine unterwürfige Mutter) und über eine eigene monogame Paarbeziehung mit Bettina geführt. Dem Wunsch Bettinas nach intimer Nähe konnte er nicht gerecht werden. "Oft stellte sie sich nachts auf den Balkon und fing an zu weinen. Ich saß in der Tiefe des Zimmers und war erschrocken." Seinen jeweiligen Part in den Nähe-Distanz-Beziehungen zu Sandra und Judith hingegen füllt er vollkommen aus. Sein Dilemma: Sein Ideal passt nicht zu den geltenden Moralvorstellungen, diese haben auch in sein eigenes Über-Ich Einzug gefunden, was zu seinen selbstquälerischen Anwandlungen führt.

Ein wunderliches, wunderbares Buch, in dessen Zentrum die Skurrilität steht. Nicht nur der Held ist ein Sonderling auf dem Gebiet der Berufswahl, auch seine Freunde und Bekannte füllen keine normalsterblichen Professionen aus: da gibt es einen Empörten-Beauftragten, einen Ekelrefrenten, einen Staubforscher, einen Postfeind, eine Mitarbeiterin des Institutes für Schockforschung, einen Alkohol-Sekretär und einen Panik-Berater. Bizarre Gestalten bevölkern am Rande den Roman: verrückte oder verwirrte Frauen und Männer werfen Mülltonnen um, hüpfen auf Straßenbahnschienen oder zerstören Telefonbücher. Auch die körperlichen Verfallssymptome des Hauptprotagonisten reihen sich in die Skurrilitäten-Liste ein: Krampfadern führen zu Problemen beim Geschlechtsakt, schaumiger Urin und Sprachstörungen beunruhigen ihn.

Es passiert nicht viel in diesem Roman. Der Hauptdarsteller verlebt eine ganz alltägliche Zeit. Interessant ist sein Innenleben, hier hat Genazino einen ganz eigentümlichen Charakter geschaffen, der in seiner innerlichen Zerrissenheit ein wenig an manche Figur bei Martin Walser erinnert. Es ist eine Kunst, wie intensiv der Autor den Leser in dieses doch sehr eigenwillige und fremd anmutende Innenleben einsteigen lässt.

Genazino tut in seinem Buch keiner Figur weh. Das ist ein Kunststück, wenn man bedenkt, dass keine der beiden Frauen von der anderen weiß. Man kann sich ein wenig über den Chauvinismus erregen, der hinter der Idee steckt, dass die Frauen in ihrem Nichtwissen am Glücklichsten sind, letztendlich kommt der Leser mit einiger Wahrscheinlichkeit selbst zu dem Ergebnis. Genazino schafft es, an den Moralvorstellungen des Lesers ein wenig zu rütteln, aber er will nicht belehren oder gar bekehren. Auch hierdurch behält die Geschichte ihre Leichtigkeit. Dennoch regt sie zum Nachdenken über die Formen des menschlichen Zusammenlebens und deren künftiger Entwicklung an. Was folgt in der Entwicklung nach der Akzeptanz von schwulen und lesbischen Paarbeziehungen? Vielleicht hat Genazino mit seinem Roman einem tatsächlichen Trend vorweg gegriffen. Stehen wir unmittelbar vor der moralischen Legalisierung der Dreiecksbeziehung? Dem Held jedenfalls wünscht man für die Zukunft einen entspannteren Umgang mit seinem Über-Ich.