Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



Juli 2005 Gerald Fiebig
für satt.org

Rolf Dieter Brinkmann: Wörter Sex Schnitt
Intermedium Records

Rolf Dieter Brinkmann: Wörter Sex Schnitt

Thomas Kling: Auswertung der Flugdaten
DuMont Literatur und Kunst Verlag

Thomas Kling: Auswertung der Flugdaten

Manfred Enzensperger (Hg.): Die Hölderlin Ameisen
Vom Finden und Erfinden der Poesie
DuMont Literatur und Kunst Verlag

Manfred Enzensperger (Hg.): Die Hölderlin Ameisen

Jan Volker Röhnert: Die Hingabe, endloser Kokon
Edition Azur im Glaux Verlag

Jan Volker Röhnert: Die Hingabe, endloser Kokon

Andrea Bartl (Hg.): Verbalträume
Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Interviews mit Friederike Mayröcker, Kerstin Hensel, Martin Walser, Bastian Böttcher und Tom Schulz
Winer-Verlag

Andrea Bartl (Hg.): Verbalträume

Martin Schmidt: Les Wasistis Tallesal
Bestellung über
martin.o.schmidt
@web.de

9 Euro zzgl. Porto und Verpackung.

Sprache, Klang, Subjekt

Überlegungen zur deutschsprachigen Gegenwartslyrik anlässlich Rolf Dieter Brinkmanns akustischem Nachlass und anderer aktueller Veröffentlichungen

1973 nahm Rolf Dieter Brinkmann für die Sendereihe "Autorenalltag" des Westdeutschen Rundfunks elf Stunden Material auf: Sprache und Geräuschcollagen, dokumentarisch gesammelt oder quasi-musikalisch arrangiert. Eine Auswahl aus diesen Bändern ist anlässlich von Brinkmanns 30. Todestag als 5-CD-Box unter dem Titel "Wörter Sex Schnitt" auf Intermedium Records erschienen.

Die Aufnahmen entstanden zeitgleich mit Gedichten des Bandes "Westwärts 1 & 2"; teilweise lässt sich erkennen, dass die aufgenommenen O-Töne als Rohmaterial für die Gedichte dienten. Zwar sind die akustischen Arbeiten eigenständige künstlerische Versuche in einem nicht-literarischen Medium, gleichwohl ergänzen und vertiefen sie das Bild, das man sich vom Autor dieses letzten Gedichtbandes macht. Wohl kein deutschsprachiger Autor, zumindest nicht nach 1945, hat das Prinzip des "Bewusstseinsstroms" so konsequent angewandt wie Brinkmann. Die späten Gedichte und die postum erschienenen Materialbücher kann man dabei als permanenten Selbstversuch sehen: die eigene prekäre Subjektivität ist die Leinwand, auf die sich die wahrgenommene Wirklichkeit projiziert. Die künstlerische Ambition gilt einem möglichst genauen Protokollieren der Eindrücke, mit dem Ziel, durch eine gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit die als entfremdend empfundene Konditionierung durch sprachliche Muster aufzuheben.

Der späte Brinkmann ist dabei stets sowohl Wahrnehmungsskeptiker – "unmittelbare" Erfahrung ist eine Utopie, weil die Sprache sich stets zwischen Welt und Subjekt schiebt – und Wahrnehmungsjunkie: die hässliche Wirklichkeit wird nur erträglich, indem eine möglichst groe Zahl von Eindrücken aus ihr "in Echtzeit" in Text übersetzt wird. Das Medium Tonband musste diesem Autor wie gerufen kommen: es ermöglichte das zeitnahe Protokollieren von Eindrücken ohne den langwierigen Umweg über die Verschriftlichung (über den Unterschied von Sprechen und Schreiben reflektiert Brinkmann auch in einem sehr aufschlussreichen Track), und es ermöglichte die simultane Verbindung von Sprache mit Auersprachlichem, mit Geräuschen, mit Musik.

Über das Gehör kann der Mensch weit mehr Eindrücke gleichzeitig aufnehmen als über den Sehsinn. Das Auge wird stärker vom bewussten Willen gesteuert, es muss einen bewusst gewählten Fokus haben, damit es wirklich sieht. Das Ohr steht hingegen grundsätzlich allem offen, was in einem einzigen Augen-Blick erklingt.

Beim Anhören der Aufnahmen wird deutlich, wie stark die "Westwärts"-Gedichte vom Versuch geprägt sind, diese Simultaneität des Hörens in Schrift, ins Optische zu übersetzen. Die Anführungszeichen, die Klammern und v. a. die Anordnung vieler kleiner Textpartikel auf der Druckseite sind Versuche, die Gleichzeitigkeit und die zeitliche Abfolge von Sinneseindrücken (und daran anknüpfenden Assoziationen) im Stereoraum darzustellen. Brinkmanns Texte sind Klangmontagen, strukturiert durch die von ihm immer wieder beschworenen Schnitte.

Der methodische Ansatz seiner Tonbandarbeiten ist dabei weniger – wie man vermuten könnte – dem Burroughsschen Cut-Up verwandt, sondern dem der Geräuschmusik. "Unter allen Verfahrensweisen der Musique concrËte", schreibt ihr "Erfinder" Pierre Schaeffer, "ist die Montage zweifellos diejenige, welche die neue Haltung am besten veranschaulicht, eine Haltung, die auf der Arbeit innerhalb der Klangsubstanz selbst beruht", während für Burroughs das Tonbandgerät letztlich ein Hilfsinstrument der Sprachmagie ist.

Arbeit innerhalb der Klangsubstanz, das bedeutet für den Sprachskeptiker Brinkmann: Arbeit in einem Jenseits der Sprache, wo mit den technischen Mitteln des Aufnahmegeräts die Wirklichkeit in ihrer physischen Präsenz eingefangen werden kann, ohne die immer schon sprachlich, ja erzählerisch vermittelte Entscheidung, die etwa beim Führen einer Kamera getroffen werden müsste.

Auch der kürzlich verstorbene Thomas Kling hat in seinem letzten Buch "Auswertung der Flugdaten" noch einmal die Bedeutung des Akustischen für sein lyrisches Werk betont – sogar im Rückgriff auf mögliche kultische Ursprünge der Dichtung und den altgriechischen "Geräuschgott" Dionysos Bromios, der als "nonverbaler Kommunikationsgott charakterisiert werden" könnte. Aufschlussreicher als die Aufwertung des Dichteramts durch den Ausgriff in den Mythos, also ins vermeintlich Fundamental-Anthropologische, die Kling gerade in diesem letzten Buch mit ähnlichem Aufwand – wenn auch weitaus unterhaltsamer – versucht wie sein Antipode Durs Grünbein, aufschlussreicher für die Herkunft der akustischen Verfahrensweisen in Klings Texten sind Gedichte wie "Neues vom Wespenbanner" oder "Alles Auenaufnahmen". In diesen Gedichten werden nicht nur verschiedene Stimmen- und Geräuschebenen montiert und geschichtet – dieses lyrische Verfahren wird auch durch Bilder aus dem Bereich der Audiotechnik im Gedicht selbst expliziert, "als band, / das sich klebrig in sich selbst auflöst, nachdem es dreiig Jahre / nicht abgehört worden ist." Ein Los, das Brinkmanns Bändern erspart geblieben ist.

Brinkmanns oben beschriebene Verschriftlichung von Sound wiederum dürfte wesentlichen Anteil gehabt haben an der Herausbildung von Thomas Klings Poetik. In Klings frühen Büchern ist der an "Westwärts 1 & 2" angelehnte Charakter der Gedichte als Montage aus Soundzitaten nicht nur in der alltagszugewandten Thematik, sondern schon im Schriftbild deutlich erkennbar. Kling entwickelte den im Kern dokumentarischen Ansatz Brinkmanns jedoch schnell und konsequent weiter zu einem autonomen formalen Verfahren, in dem das lyrische Subjekt in eine quasi-musikalische Vielzahl von Stimmen aufgespalten wird (musikalisch im Sinne der Musique concrËte als Organisation von Geräuschen) – eine Herangehensweise, die ihre gekonnteste Ausformung heute wohl in den Gedichten von Hendrik Jackson erfährt.

Verlässt man den Bereich der besonders akustisch geprägten Texte, so zeigt sich folgendes: Brinkmanns Ansatz, in der die lyrische Subjektivität sich nur als negative Silhouette vom Horizont seiner textlichen, visuellen oder sonstwie medial-kulturell vorgeformten Umwelt abhebt, kann im Rückblick als wegweisend für die zeitgenössische deutschsprachige Lyrik gesehen werden. Aus der von Manfred Enzensperger herausgegebenen Anthologie "Die Hölderlin Ameisen – Vom Finden und Erfinden der Poesie" gewinnt man jedenfalls den Eindruck, als sei dieser Ansatz einem Groteil der dort zu Wort kommenden Dichterinnen und Dichter gemeinsam. 36 Autoren und Autorinnen sind mit je einem Gedicht und Kommentaren bzw. Materialien zu dessen Entstehung vertreten. Diese Materialien reichen vom Zitat einer Residents-Schallplatte bei Ulrike Draesner oder einem ganzen Arsenal an Reggae-Platten bei Marcel Beyer über Postkarten, Stadtpläne, Speisekarten, Fotos bis zu Dieter M. Gräfs Collage aus Hölderlins Der Tod fürs Vaterland und einem populärwissenschaftlichen Text über das selbstmörderische Verteidigungsverhalten bestimmter Ameisenarten. Gräfs Text, der der Anthologie ihren Titel gibt, "arrangiert als Reaktion auf den 11. September einen Crash zwischen zwei Textsorten: Hölderlins Der Tod fürs Vaterland ist das schwarze Flugzeug fehlgeleiteter Hochkultur". Der Titel des Gedichts ist dabei in zweierlei Hinsicht programmatisch: "Damit Ich aufbricht" verweist auf die psychische Disposition des Selbstmordattentäters, aber auch auf das literarische Programm des Textes. Hier wird die Realität anhand von Texten verhandelt, ohne dass eine lyrische Subjektivität im Text noch vorkäme. Gräfs Poetik nimmt damit in dem Band eine Extremposition ein, die in einer politischen ƒsthetik wurzelt: Ihm geht es, ausdrücklich im Anschluss an Brecht, um das Ausstellen und Zur-Kenntlichkeit-Verfremden belastender Dokumente über die politische Verfasstheit der Wirklichkeit und eine daran anknüpfende ethische Fragestellung. Für eine Vielzahl seiner Kollegen, die in "Die Hölderlin Ameisen" zu Wort kommen, ist das individuelle, sich selbst reflektierende Subjekt nach wie vor die zentrale Instanz ihrer Texte – wobei die Kürze und Konzentriertheit der meisten Texte auf formalem Weg eine Geschlossenheit auch des lyrischen Subjekts suggeriert, die in Brinkmanns "Sequenzen" bereits demontiert war.

Insofern kann man Uwe Tellkamps in der Anthologie geäuerte Kritik am kurzen Gedicht teilen (wenn auch mit anderen Argumenten als den von ihm vorgebrachten): "Es suggeriert eine Abgeschlossenheit, die nirgends zu entdecken ist." Tellkamp reagiert darauf mit der These, das Epos sei die unserer Gegenwart adäquate lyrische Form, da "es allein in der Lage ist, viele widerstreitende Stimmen, indem es sie als Teil eines gröeren Ganzen und das Ganze somit als Partitur behandelt, in einer Komposition zu harmonisieren", wobei das Klangliche auch in dem abgedruckten Auszug aus seinem Epos "Der Nautilus" eine zentrale Rolle spielt: "eine Partitur aus Zeitungsrauschen, Geschwätz, Nachrichten, Fetzen von Soap-Operas, Internet-Chats, SMS, Börsentickern, beschallt von den ‚Releases’ diverser Pop-Gruppen, ‚Sounds’ und den Plattentellern der DJs." Den provokativen Rekurs auf das an den Ursprüngen der abendländischen Dichtung angesiedelte Epos kann man getrost als ursprungstümelnde Selbststilisierung ‡ la Kling und Grünbein abtun – aber das Resultat liest sich weitaus spannender und tatsächlich zeitgemäer als die meisten anderen Gedichte des Bandes. Entfernte ƒhnlichkeit mit Tellkamps ausuferndem Weltpanorama haben in der Gegenwartsliteratur höchstens die Texte Paulus Böhmers oder das Langgedicht "Die Hingabe, endloser Kokon" (Jena: Edition Azur im Glaux Verlag 2005) von Jan Volker Röhnert.

Ist Brinkmanns Umgang mit der lyrischen Subjektivität also mittlerweile so allgegenwärtig und in domestizierter Form zum "Mindeststandard" lyrischen Schreibens geworden, dass es expliziter Auenseiterpositionen bedarf, um sich heute so erfrischend bzw. provokativ davon abzuheben, wie es der "Pop-Dichter" Brinkmann in der Literaturlandschaft der frühen 70er Jahre tat?

Gerade, dass Brinkmanns Ansätze sich teilweise anscheinend "zu Tode gesiegt" haben, rechtfertigt die Einschätzung, dass er "durchaus ein Innovator des deutschen Gedichts der 70er Jahre" (Tom Schulz im Gespräch mit Theresa Klesper) war und nicht nur der Erste, der den Begriff Pop "wider das Diktat eines von Autoritäten homogenisierten Kunstverständnisses und für die /ffnung der Literatur in Deutschland einführte" (Simone Merk in einem Aufsatz über Herr Lehmann von Sven Regener, in dem sie sehr hellsichtig die konservative Instrumentalisierung des Begriffs Pop durch die "Generation Golf" kritisiert). Beide Zitate stammen aus dem bemerkenswerten Buch "Verbalträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Interviews mit Friederike Mayröcker, Kerstin Hensel, Martin Walser, Bastian Böttcher und Tom Schulz". Die Herausgeberin Andrea Bartl versammelt darin Aufsätze, die aus Lehrveranstaltungen an den Universitäten Augsburg, Bamberg, Mainz, München und Regensburg hervorgingen. Allein die Tatsache, dass hier neben DoktorandInnen auch Studierende nicht aufgrund ihrer bereits erworbenen Titel, sondern aufgrund ihrer Sachkompetenz zu Wort kommen, ist in der deutschen Universitätslandschaft etwas so Ungewöhnliches, dass ein positiver Hinweis auf das Buch gerechtfertigt ist. Man kann das Buch als vorbildliche bildungspolitische Initiative sehen: Denn wie motiviert können Studierende sein, die schon in einem frühen Stadium ihrer Ausbildung ihre Kompetenz an echten, auf Veröffentlichung angelegten Forschungsprojekten schulen können, anstatt mit Studiengebühren ein vollkommen auf die quasifeudalistische Selbstherrlichkeit der Ordinarien hin zentriertes System zu finanzieren, in dem man drei Semester auf die Korrektur einer 15-seitigen Proseminararbeit warten muss!

In dieser Hinsicht wird "Verbalträume" wohl leider die rühmliche Ausnahme bleiben. Umso mehr ist die inhaltliche und stilistische Qualität der Beiträge hervorzuheben. Sie macht das Buch zu einer spannenden Lektüre für Literaturinteressierte auerhalb der akademischen Fachwelt – was man nicht von vielen Sammelbänden dieser Art behaupten kann. Für abwechslungsreiche Lektüre sorgt allein schon der Wechsel von wissenschaftlichen Essays und Interviews – die wesentlich erhellender sind, als es Zeitungsinterviews in der Regel sein können, weil in einem 352-seitigen Buch schlicht mehr Platz zur Verfügung steht. Schon die Liste der GesprächspartnerInnen im Untertitel zeigt, dass es der Herausgeberin nicht um die Festschreibung eines Kanons geht. Neben etablierten Autorinnen und Autorinnen stehen auch solche, die hier zum ersten Mal Gegenstand einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung werden.

In ihrem einleitenden Essay konstatiert die Herausgeberin die wachsende Bedeutung ethischer Fragestellungen in einer neueren Strömung der Literaturwissenschaft (und in den literarischen Texten selbst, wofür etwa Dieter M. Gräfs oben skizzierte Poetik ein interessantes Beispiel bildet), in die sie die Beiträge der "Verbalträume" einreiht. Das ist nicht als Regression zu einer normativen Poetik gemeint und auch nicht als Rückfall hinter die analytischen Instrumentarien des Poststrukturalismus – vielmehr als Erkenntnisinteresse, das sich diese Instrumente zu Nutze macht, um aus Literatur Aufschluss über unsere Gegenwart zu gewinnen. In den m. E. interessantesten Beiträgen des Bandes zeigt sich eindrucksvoll, dass eine selbstbewusste Literaturwissenschaft durchaus geeignet und notwendig ist, um das volle (gerade auch politische) Potenzial ganz aktueller Literatur zu erschlieen – neben den eingangs zitierten Texten von Simone Merk und Theresa Klesper zeigt sich das m. E. vor allem an Carmen Dollhäubls brillanter Analyse von Sibylle Bergs Roman "Ende gut", Nadja Hadeks Essay und Interview, die auch den an Martin Walser eher desinteressierten Leser kompetent über die Hintergründe der diversen medial inszenierten "Walser-Affären" informieren, sowie Cosima Hohls Interpretation von Durs Grünbeins Gedicht "Vita brevis". Darin analysiert sie das Konstrukt des lyrischen Ichs im Rückgriff auf Michel Foucaults Theorie der Macht: "Die vordergründig binäre Struktur von Staat als Täter und Untertan als Opfer wird durch ihre Anerkennung fortgeführt, das Ich in seiner ‚Mittäterschaft’ entlarvt" – ein Effekt, der allein schon durch die vorgegebenen Strukturen der Sprache entsteht. Widerstand gegen die Deformation von Subjektivität durch autoritäre Verhältnisse kann also nie aus einem absoluten Auen kommen, weil das Subjekt die Sprache nicht verlassen kann. Steht die Sprache insgesamt erst einmal unter dem Generalverdacht, per se eine entfremdende Kategorie zu sein, kann sich das Subjekt allenfalls entschlieen, zu schweigen oder der Sprache eine ausdrücklich nicht-sprachliche Dimension, etwa die des unmittelbaren physisch spürbaren Geräuschs entgegenzusetzen – eine Strategie, der sich Rolf Dieter Brinkmann auf seinen Tonbändern annähert und die man in Abwandlung eines Titels von ihm auf den Nenner bringen könnte: "To a language filled with compromise, we make no contribution."

Diese Strategie weist letztlich über die Grenze des Literarischen hinaus in das immer noch für Experimente jeder Art offene, nicht vollständig kartographierte Feld der Klangkunst. Doch auch innerhalb der Literatur als Sprachkunst, gerade in der Lyrik, hat sich im vergangenen Jahrzehnt der Trend vom Schriftlichen hin zum Akustischen immer mehr verstärkt: Stichwort Spoken-Word-Lyrik. Das mag einerseits damit zu tun haben, dass das Entstehen von Poetry-Slam-Veranstaltungen heute eine Veröffentlichungsplattform bietet, die sich speziell für bühnengerechte Texte eignet, und dass deshalb viele Texte auf dieses Format hin geschrieben werden.

Mit einer so einseitigen Deutung würde man sich indes die aufs Schriftliche fixierte Lyrikdefinition einer in kanonischen Kategorien der Moderne erstarrten Literaturkritik zu eigen machen. Tatsache ist: die Zahl der Dichterinnen und Dichter, die den Zugang zum lyrischen Schreiben über das Hören (und ggf. auch Singen) von Texten zu Musik finden, nimmt immer mehr zu. Die Hip-Hop-Lyrik von Bastian Böttcher ist nur ein besonders plakatives Beispiel für diesen Trend, aber gerade deshalb scheint es mir begrüenswert, dass Maike Lipczinsky in "Verbalträume" eine erste wissenschaftliche Annäherung an das Phänomen der Spoken-Word-Lyrik sucht. Denn: Spoken Word is here to stay, und die schriftliche Lyrik wird sich dem Einfluss der gesprochenen Lyrik auf Dauer nicht entziehen können. (Es war ja gerade eine der groen Leistungen von Thomas Kling, dass seine Texte von Anfang an Akustisches nicht nur benannten, sondern auch als Sprech-Performance ihre Berechtigung hatten.)

Wegweisend für eine Sprech-Lyrik, die ihre Wurzeln im Pop-Songtext nicht verleugnet, die der souveränen Vortragskunst von Slam-Profis in nichts nachsteht, die es aber – und das ist entscheidend! – in ihrer metaphernschöpfenden Kraft und ihrer hochartizifiziellen Selbstreflexion mit den Besten der deutschsprachigen Gegenwartslyrik aufnehmen kann, wegweisend für einen literarischen Ansatz, der sich nach meiner Prognose zu einer eigenständigen Strömung der deutschsprachigen Literatur auerhalb der Slam-Subkultur entwickeln wird, ist die Lyrik von Martin Schmidt. Seine aktuelle CD "Les Wasistis Tallesal", die den bisher ausgereiftesten Querschnitt seines Schaffens darstellt, zeigt, dass gesprochene Lyrik der prekären Flüchtigkeit der zeitgenössischen Subjektivität mehr gerecht wird als jede Verschriftlichung. Denn ein schreibendes Subjekt hinterlässt stets eine Spur, ein Artefakt, ein Objekt. Ein sprechendes Subjekt existiert nur, solange es spricht: "das Laub meiner Haut / im / Schrappnellwurf flirrenden, fliegenden Lippen / Eine Marschtrommel im Kopf ist mir mein Name. // wie der sinn sich ständig / zwischen unsern lippen / hauchweis löst."