Thalmayrs/Enzenbergers Erstehilfebuch für den Schulgebrauch "LYRIK NERVT" hatte seinen Grund. In Deutschland least man mehr, als daß man sich Gedichte auf den Nachtisch legt oder unter das Kopfkissen. Mehr als das ständige Gerede um die Krise der Lyrik jedoch nervt die Demut der ProduzentInnen, die sich allzugern als eine vom Aussterben bedrohte Art ansehen und freiwillig zoologisiert haben als feingliedrige besonders duftende Tiere. Der Platz des Lyrikers hierzulande ist hinter Glas oder im Gehege, wo er sich gern bestaunen läßt: Füttern verboten!
Man kann sich den Lyriker aber auch als Hungerkünstler vorstellen, wie ihn Kafka beschrieben hat, als eine kurzweilige Attraktion auf dem Jahrmarkt oder vor einem Zirkuszelt. Gäbe es da nicht den Literaturbetrieb, der schützend die Hand vor seine Schäfchen hält, die Schlechtbesten ins Töpfchen, die anderen … Wer jetzt kein Stipendium hat, wird keins mehr kriegen. Das reicht bis in die lyrische Altersarmut der schreibenden Verleger und Kimonoträger, das geht bis ins Spätwerk nach Frankfurt zu Mainachten. Der Lyriker in deutschen Ländereien erhält die Pensionierung postum und wer dann noch schlecht über ihn redet, soll sich was schämen! Von den Lesern gar nicht zu reden, die in andere Sprachen ausgewandert scheinen. In den Versen Gerhard Falkners:
"die Deutsche Inge
mit ihrem Stecknadelgesicht
ihrem im Wohlstand gesottenen Spatzenhirn
findet Gedichte entweder total spannend
oder manchmal echt ätzend
- ist es auf den Punkt getroffen: Danke, es reicht! In diesem Spannungsfeld (zwischen gähnender Langeweile und einem Jetztodernie) muß also das zeitgenössische Gedicht seine Lebensfähigkeit auch gegen die Häme rückgebildeter Feuilletonisten beweisen und wie?
Wie der Berliner Lyriker Björn Kuhligk (Jahrgang 1975), der seinen dritten Gedichtband "Großes Kino" betitelt hat und das vielleicht nicht ganz so glücklich, weil der Titel doch ein wenig in die Irre führt. Denn Kuhligks Gedichte haben mit den konsistenten Gefühlen inszenierter Hollywood-Sonnenuntergänge nichts gemein. Im Gegenteil: Kuhligks Großes Kino findet irgendwo in der Neuköllner Ghettowelt statt, wo nicht nur die "Altersarmut Platz nimmt." Kuhligk schreibt pointierte Selbst- und Fremd-porträts im Augenblick des eigenen Erlebens und Erfahrens: In den Momenten eines emotional-intelligenten Begreifens, das ein Moment der Wahrheit der eigenen Schritte ist:
und das Lieblingstier
das ist der Affe im Zoo
den kannst du besuchen
und er dich nicht
Björn Kuhligk ist zudem ein Meister feingewebter Liebesgedichte, die nicht ohne Pathos ein Sentiment beschwören, das Momente der Schönheit zur Sprache kommen läßt:
der Himmel hängt heut tief, ich zeig dir
in der Zeitung einen Schwan
und denk daran, mich zu verrücken
du sprichst von einer Möglichkeit
Im Gegensatz zu einem Großteil seiner jungen Dichterkollegen scheut sich Kuhligk jedoch nicht vor den deformierten Wirklichkeiten dieses Landes, den Verwerfungen einer globalisierten Welt. Einen Großteil seiner Gedichte muß man auf der Höhe der Zeit nennen, da ihr Blick nicht im Elfenbeinturmzimmer verharrt, sondern ins Offene streift, in das sprichwörtliche Mißlingen der Gegenwart, wie wenn Kuhligk imaginär "Mit Fauser im Nachtbus" durch das nächtliche Berlin streunt:
"Zeigen Sie das mal Ihrer Frau. Es sieht gut aus und kostet nichts."
was und
welcher Boden soll da noch kommen, WORAUF
WARTEN, AUF DEN IRREN BOMBER
DER UNS ALLE
WECKT, mit den Helden der Schlußverkäufe
möchte man ins Meer getreten werden
Das Meer wiederum ist ebenso ein zentrales Motiv in den Gedichten von Thomas Kunst. Nicht umsonst heißt der Band des mittlerweile 40jährigen Leipziger Aus-nahmedichters: "was wäre ich am fenster ohne wale". Kunst, der bereits in den Gedichtsammlungen zuvor sein großes Können unter Beweis stellte, hat seine maritim-poetischen Erkundungen fortgeschrieben. Es sind die feinfühligen Er-kundungen erweckter Körper, eine Art lyrische Kalligraphie des Verlangens zwischen Anziehung und amour fou:
Die Brandung ist das eine.
Das Saufen ist das eine. Die Musik
Ist das eine. Die Frauen sind das
eine. Die Kinder sind das eine. Die
Gedichte sind das eine. Die schönen,
Vertrockneten Gedichte, die mutwillig
Schönen, die niemand mehr will. Aber ich
will sie. Und ich werde sie euch
Zurückbringen
Thomas Kunst bringt sie zurück, die mutwillig schönen Gedichte auch um den Preis des Selbstreferenziellen, einer mitunter überflüssigen Privatheit. Trotzdem kommt man nicht umhin von der Berücktheit seiner lässig-verspielten Sonette liebkost zu werden, um dann auf den Strand hart aufzuschlagen:
Du hast das Meer in meinem Tagebuch
Auf zwölf geschätzt, von mir aus, laß es lieber.
Anders als der 1970 in Lüneburg geborene Autor Florian Voß, dessen Debütband "Das Rauschen am Ende des Farbfilms" eher altertümliche, manchmal fast antiquierte Töne anklingen läßt. Voß hat allen Nachmodernen und Avantgarden abgeschworen und schreibt Gedichte, die in der Tradition dunkler Bildwelten à la Trakl stehen und den morbiden Gesten des Expressionismus abgelauscht sind. Allemal bemerkenswert ist seine Winterreise-Bearbeitung nach Texten von Wilhelm Müller:
Mein Geburts-haus ist entkernt
Ich spreche keinen Dialekt
Zuhause bin ich ausgezogen
Nach Hause kehr ich wieder ein
Die Gedichte des Bandes sind auf der Suche nach einem inneren Zusammenhalt. Leider geschieht dies nicht immer mit ästhetisch schlüssigen Mitteln, Moderne hin oder her, der Arbeit am Wortwerk hätte es bei einer Reihe von Gedichten stärker bedürft. Schöne Zeilen finden sich jedoch hier und da:
Am Morgen
unter einem blanken Himmel
ist es ein Leichtes
dem Tod
in die Gedichte zu schreiben
, so daß man Florian Voß und seinen Gedichten eine zweite Chance einräumen möchte.
Unter den jüngeren Dichtern des deutschsprachigen Raums nimmt Gerald Fiebig (Jahrgang 1973) eine besondere Rolle ein, die eines lo-fi-poets mit Akkustikset und Verzerrer. Fiebigs neues Opus "geräuschpegel" kommt zwar noch ohne Karaoke-CD aus, aber dafür mit der richtigen Anleitung: "wir sind maistonträger. wir essen uns auf." Fiebig verknüpft gekonnt die Attitüde des Pop mit dem Understatement des Gedichte-machens. So entstehen luzide Textgebilde, durch die man passagenartig hindurchgehen kann. Der Alltag als Ausgangspunkt des Schreibens ist bei Fiebig immer ein sozialer und politischer Moment, in den er seine Leser mitnimmt:
im blaulicht der nichtschwimmerbecken
zittern die bilder von menschen, die trinken
bier am rand des wassers & warten
darauf, daß die sonne verschwindet
& die geschichte beginnt.
Dabei ist Fiebigs Blick ein treffend genauer mit großer Brennweite, der uns die Erschütterungen einer turbokapitalistischen Gegenwart nur zu deutlich sichtbar macht.
Und eines bleibt: Gedichte sind Kassiber, die hinaus geschmuggelt werden müssen. Oder wie der Dichter Fiebig schreibt:
"& die räuber sind wir selbst & wir sind zwischen den zeilen."