Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



August 2005
Tobias Lehmkuhl
für satt.org

Wendell Steavenson:
Gestohlene Geschichten. Aus Georgien.

Übersetzt von Otto und Xenia Osthelder, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2004, 289 S., 24,90 Euro.
   » amazon

Wendell Steavenson:
Gestohlene Geschichten.
Aus Georgien.

Mit einer „merkwürdigen Schwäche für den Betonplattenbau der Ära Chruschtschow“ versucht die Journalistin Wendell Steavenson ihre Faszination für Georgien zu erklären, bevor sie Ende des letzten Jahrhunderts für zwei Jahre in den Kaukasus zieht. Das Buch, das sie über ihre Zeit dort geschrieben hat, verrät wenig bis gar nichts über die sowjetische und postsowjetische Architektur. Steavenson hatte es ohnehin nicht ganz ernst gemeint. Und außerdem gäbe es zu diesem Thema wenig zu sagen, denn das „einzig neue, was sie in Abchasien nach dem Krieg errichtet haben“, sind Gräber.

Der Kaukasus – und Abchasien ist ein Teil davon - war schon immer für Geschichten gut und immer schon zog er Abenteurer an. Ob bei Karl May oder Tolstoi, diese Gegend galt als wild und aufregend und hat bis heute ihre Anziehungskraft auf Desperados nicht verloren – seien sie auch zart, blond und weiblich. Im Kaukasus lockt neben dem Öl die Vorstellung einer archaischen Stammesgesellschaft. Das Spannungsverhältnis der ersten christlichen Kulturen, die hier ihren Ursprung haben, und solch unchristlichen Ritualen wie der Blutrache verleiht der Region ihren zwiespältigen Reiz. Ein Ort, eingeklemmt zwischen den Meeren und Kontinenten wie zwischen den Interessen der vielen Gruppen, die hier nach Glück, Reichtum und Macht streben.

Wendell Steavenson trieb die pure Neugier, die sich im Laufe der Zeit gleichwohl in innige Zuneigung verwandelte. Mit Wärme beschreibt die in New York geborene und in London aufgewachsene Journalistin die kalten georgischen Winter. Mit Galgenhumor die ständigen Stromausfälle in Tiflis und kopfschüttelnd, aber lächelnd die korrupten Zustände allüberall.

Nie vergisst sie, dass sie sich in einer Gegend befindet, in der permanenter Ausnahmezustand herrscht, in der ständig irgendwo geschossen wird. Erklären will oder kann Steavenson das nicht, und darum ist ihr Buch so angenehm zu lesen: Es zwingt einem keine bestimmte Lesart des Kaukasus und seiner Konflikte auf. Und es geht ihm auf der anderen Seite auch nicht darum, kühl und sachlich Kriegsberichterstattung zu betreiben.

Schwer zu sagen allerdings, ob es Steavenson überhaupt um etwas geht. Ihr Buch wirkt einigermaßen intentionslos – was bei einem Reisebericht, für den eine gewisse  Unbefangenheit von Vorteil ist, nicht unbedingt als Schwäche gelten muss. Auf jeden Fall will die Journalistin ihren Lesern nichts vormachen. Sie bekennt sich ebenso dazu, dem Charme des (inzwischen geflohenen) adscharischen Herrschers erlegen, wie dem des (inzwischen ebenfalls gewesenen) georgischen Machthabers entgangen zu sein: „Ich habe Schewardnadse die Hand gegeben, und, um ehrlich zu sein, sie war ein wenig schlaff.“

An einer anderen Stelle sagt eine befreundete Journalistin:  „Und nichts, was wir jemals über diesen Arsch der Welt schreiben, egal wie sehr wir dieses Land lieben, wird auch nur das Geringste bewirken.“ Es scheint, als würde auch Steavenson zu dieser pessimistischen Sicht der Dinge tendieren. Und tatsächlich kann man nicht behaupten, die Welt interessiere sich sonderlich für Armenier, „die in Kelbajar Kurden aus ihren Häusern vertrieben, oder für Aseris, die in Sumgait armenische Läden anstecken, oder für Georgier, die Osseten steinigten, oder für Russen, die tschetschenische Krankenhäuser bombardierten oder für Abchasen, die mit den Köpfen mingrelischer Kinder Fußball spielten.“

Die im Kaukasus verübten Grausamkeiten sind so vielfältig wie die Stämme, die ethnischen Gruppen und Nationen, die dort ihren Platz verteidigen. Dankenswerterweise hat Steavenson einen Anhang verfasst, in dem sie Chewsuren, Kisten oder Swanen kurz portraitiert. Auch eine brauchbare Bibliographie hat sie ihrem Bericht beigegeben. Einer Moral aber enthält sie sich genauso, wie sie sich zurückhält, ihr eigenes Georgienbild dem Leser als objektive Gesamtdarstellung zu verkaufen. Ganz im Gegenteil, sie macht deutlich, dass sie in erster Linie dort ist, um zu leben, nicht um zu verstehen. Ausführlich beschreibt sie, wie sie unter der Kälte des Winters leidet, und unbefangen erzählt sie von der Liebe, die ihr in Gestalt eines deutschen Fotografen begegnet. Vertraulich, ohne sich anzubiedern, ist dabei ihr Ton.

Geschrieben hat Steavenson ihr Buch, wie sie im Nachwort vermerkt, in Stepanakert, der Hauptstadt von Berg-Karabach. Man entsinnt sich dunkel dieser Namen. Jahrelang kämpften hier Armenien und Aserbaidschan. Heute gibt es wenig zu sehen, Ruinen da, gesichtslose Neubauten dort; der Großteil der Bevölkerung ist vertrieben oder tot. Ein Pizzabäcker, der den Belag mit Dosenerbsen garniert. An einem solchen Ort schriebe es sich gut, weil er so langweilig sei, meint Steavenson. Er ist der letzte in einer Reihe von Orten, die diesem Buch ihren Abdruck aufprägen. Doch keinen langweiligen.