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September 2005 | Tobias Lehmkuhl für satt.org |
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Lyrik von heuteDiether Roth:
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Diether Roth: Da drinnen vor dem Auge. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2005. 304 S., 10 Euro.
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Als Künstler ist Dieter Roth inzwischen anerkannt, als Dichter aber kaum bekannt. Dabei hat er mit „Bei der Nacht“ eines der erschütternsten Gedichte des 20. Jahrhunderts geschrieben. War seine Literatur bisher nur gemeinsam mit seiner Malerei und Grafik im Zusammenhang von ihm gestalteter Künstlerbücher zu entdecken, so ist nun endlich eine Auswahl der Lyrik und Prosa Dieter Roths in einem kompakten Band erschienen. Über dreihundert Seiten Gedichte, Skizzen, Aphorismen, Aufsätze, Erzählungen, teilweise flankiert von Zeichnungen und Faksimiles fasst dieses längst überfällige Buch (Roth ist seit sieben Jahren tot). Was Welt- und Selbsthass, was Ekel und Angst bedeuten, erfährt man hier. Doch auch, was Witz und überschwängliche Leidenschaft vermögen – einen eigentlich Verzweifelten immer wieder voran zu treiben: „lieber leser, denke auch du, denn der schreiber kommt oft nicht dazu. (danke schön!)"
Manfred Enzensperger (Hg.): Die Hölderlin Ameisen. DuMont, Köln 2005. 256 S., 19,90 Euro. » amazon |
Woher kommen die Gedichte? Nicht vom Storch und auch nicht durch den heiligen Geist, wie die Anthologie „Die Hölderlin Ameisen“ beweist. 26 Dichter und 10 Dichterinnen haben hier den Blick in ihre Werkstatt geöffnet und Material präsentiert, aus dem sie in ihren Gedichten schöpfen. Ulf Stolterfoht beispielsweise gibt Auskunft über Programmierhandbücher, denen er Werkstoffe für seine Textgebilde entnimmt, Friedericke Mayröcker präsentiert ein maschinenschriftliches Typoskript mit knalligbunten Nachträgen und Umarbeitungen, andere Dichter arbeiten anhand von Fotos und Gemälden, mit Stadtplänen oder fremden Gedichten. Marcel Beyer etwa schlachtet Briefe und lyrische Fragmente Gottfried Benns so hemmungslos aus, das man nicht schlecht darüber staunt, wie es ihm gelingt, dem eigenen Gedicht noch einen selbstständigen Ton zu verleihen. Stoff genug also, nicht zuletzt für die Verse Hans Thills: „So entstand dieses Gedicht als deutscher Klonmythos aus Fundstücken: Wehrmachtspsychologie, Lesefrüchte, Lutherbibel, Werbe-Slogan, Hinweisschild, Männerwitz."
Urs Engeler (Hg.): Zwischen den Zeilen Nr. 24, Basel 2005, 15 Euro. |
"Literatur ist etwas anderes als exakte Wissenschaft. Wir wissen das und doch wissen wir auch, dass dem Exakten etwas anhaftet, womit sich Literatur gut und gerne loben lässt", schreibt die Dichterin Sabine Scho am Ende der diesjährigen Ausgabe von „Zwischen den Zeilen". Unweigerlich muss man an den Anfang des Heftes zurückdenken, an die Gedichte Nico Bleutges, mit denen die „Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik“ öffnet. So fragwürdig der Begriff in Bezug auf die schöne Literatur auch ist, keiner scheint die Verse des 33jährigen Tübingers treffender zu beschreiben als „Präzision". Denn kein „Ich“ verunklart in den Gedichten Bleutges den Blick. Es ist eine „Wahrnehmungsmembran", die hier spricht. Sie betrachtet ihre Umgebung mit analytischer Schärfe und zugleich größter sinnlicher Empfindsamkeit: „langsam, beim wandern über den horizont/ kommt die sandlinie näher. tangfäden, schmale markierungstonnen/ der blick schleift die rundungen ab und die vögel rauen die luft auf. scharlach, malve, blau harren aus/ das schauen gewinnt an den farben, an den konturen/ fädeln die lider sich ein."
Hans Thill: Kühle Religionen. Wunderhorn, Heidelberg 2003. 100 Seiten, 17,90 Euro. » amazon |
Hans heißt in Frankreich Jean, und Arp klingt dort wie Harfe. Ergibt die Summe von Hans Harfe und Jean Arp also Hans Arp? Oder ist diese Gleichung purer Dadaismus? Nicht ganz. Immerhin zeigt sie, dass Wörter, die synonym scheinen, abhängig von Klang und Kontext die unterschiedlichsten Assoziationen hervorrufen. Und wenn in einem Gedichtband sowohl Jean Arp als auch Hans Harfe auftauchen, dann kann man davon ausgehen, dass es sich um mehr als eine Anspielung auf einen avantgardistischen Dichter handelt. Heißt auch noch der Autor des Bandes Hans, dann liegt die Vermutung nahe, dass hier ein poetologisches Vexierspiel betrieben wird.
Und gerade darum geht es Hans Thill in „Kühle Religionen": Herkömmliche Bedeutungen zu überschreiten oder zu unterlaufen, Aufmerksamkeit auf die vielfältigen Ebenen der Wörter zu lenken, sie in ihrer semantischen Fülle klingen und oszillieren zu lassen. Der „sublimierende Fehler“ und das „profanisierende Missverständnis“ sind ihm Zeichen für die ästhetische Qualität eines Textes. So gehen Sprachkritik und Sprachmagie in Thills neuem Band auf gänzlich unangestrengte Weise Hand in Hand. Überhaupt sind die meisten seiner Gedichte von inspirierender Frische. Wie Skulpturen oder Gemälde kann man sie genießen, ohne „verstehen“ zu müssen.
Genauso gut ließe sich dieser Genuss aber auch als eine Form des Verstehens begreifen. Thills Verse wirken unmittelbar auf die Einbildungskraft. Vor allem führen sie nie gesehene Bilder vor das innere Auge. Da fährt ein „Porsche aus Torf“ durch die Verse und man wohnt einer „Vesper der Wespen“ bei, die „Eile“ einer „Eule“ wird aufmerksam beobachtet und „Fräulein“ werden fröhlich mit „Forellen“ verwechselt. Mit kräftigen Farben zeichnet der Dichter, sinnlich sind seine Gedichte. Es ist nichts Neues, nichts Außergewöhnliches, was hier geschieht. Thills Unbefangenheit jedoch, sein geschickter und kenntnisreicher Umgang mit den verschiedenen Elementen der Lyrik – Form, Klang, Rhythmus, Bedeutung – macht die „Kühlen Religionen“ zu einer erfreulichen Angelegenheit.
Auch der Titel dieses Bandes irritiert auf spielerische Weise. Einen Hinweis, was es damit auf sich hat, gibt Thill in einem poetologischen Aufsatz, der in der wunderbaren Zeitschrift „Zwischen den Zeilen“ zu lesen steht. Dort schreibt er: „Die großen Religionen reden eine deutliche Sprache. Aber ihre Aussagen sind paradox.“ So auch die Gedichte des Heidelberger Autors. Einfache Wörter und Sätze sind in ihnen mal erhellend, mal verdunkelnd kombiniert. Nichts scheint treffender als „zähneknirschender Schotter", nichts skurriler als wenn „Kelten zelten". Es zeigt sich darin, dass semantischer Unsinn und sinnliche Wahrhaftigkeit einander nicht ausschließen, sondern, ganz im Gegenteil, gemeinsam und in einem Moment paradoxer Klarheit, der durchaus metaphysische Implikationen in sich trägt, die Evidenz der Bilder bewirken. So meint man, mit jeder Seite, die man umschlägt, um eine neue Ecke zu biegen, hinter der einen Überraschendes und Ungewohntes erwartet. Wo „Hans Harfe in die trägen Segel bläst", kann man sich auf eine abenteuerliche Fahrt gefasst machen.
Ulf Stolterfoht: fachsprachen XIX – XXVII, Urs Engeler Editor, Weil am Rhein 2004, 126 Seiten, 19 Euro.
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Literatur, und zumal Lyrik, ist eine überaus freundliche Art miteinander umzugehen. Jemand schreibt ein Gedicht, einen Gedichtband gar, und überlässt ihn der Öffentlichkeit. Jedermann darf ihn lesen und jedermann steht es frei, damit zu machen, was er will. Keiner, und schon gar nicht der Autor, schreibt dem Leser vor, wie er die Sache zu verstehen hat. Gedichte sind immer ein Angebot, niemals eine Verpflichtung. Höchstens, dass der Dichter einige Hinweise gibt. Doch grundsätzlich gilt: „nichts muß/ alles kann". Das allerdings ist auch wieder nur ein Hinweis. Er entstammt Ulf Stolterfohts Gedichtband „fachsprachen XIX – XXVII", dem dritten und leider letzten Teil einer Fachsprachen-Trilogie, deren erster Band vor sechs Jahren erschien. Die Offenheit und Vielbezüglichkeit allerdings ist bei dem in Berlin lebenden Stolterfoht Programm, denn: „immer stärkere lesergehirne bedrohen die wirkmacht der dichtung". Darum gilt es, den immer stärkeren, durchs Internet rasenden Lesergehirnen, genügend Futter zu geben und genug, woran sie sich abarbeiten können. Ein Goethe-Gedicht lässt sich leicht auswendig lernen, aber versuche mal einer, einen Stolterfoht zu memorieren! Dabei ist jeder Fachsprachen-Text bis zum Bersten mit Reimen, Schüttelreimen und Assonanzen gefüllt, mal „kichert ein kiebitz in chemnitz", mal sitzt „ein bussard zuviel auf dem draht. art über-/ hangmandat". Stolterfohts Dichtung ist nicht nur ein Füllhorn an sprachlichen Knalleffekten, seine „Fachsprachen“ bilden auch ein einzigartiges Versuchslabor, wie lyrisches Sprechen in deutscher Sprache heute aussehen und sich anhören kann. Bemerkenswert ist, dass er zwar allerlei Fachsprachen benutzt, vor allem Wörter also, die von bestimmten Berufsgruppen verwendet werden und in der Umgangssprache nicht bekannt sind oder dort einen anderen Sinn haben, dass er diese Wörter aber nie für sich alleine nimmt, sondern sie immer in einen Kontext stellt. Stolterfoht tanzt nicht wie ein Schamane um das einzelne Wort, er beschwört nicht die magische Energie des Zeichens. Für ihn ist die kleinste sprachliche Einheit der Satz: „weil: man welt im satz nur/ probeweis zusammenstellt". Spätestens hier wird der Einfluss von Wittgenstein, Gottlob Frege, Max Bense und einigen anderen Denker auf das Stolterfoht’sche Werk deutlich. Aber auch diese Paten bleiben von des Dichters Witz, von seiner Lust an der Verballhornung nicht verschont: „finales kurbeln/ dann drehen: nie wird man/ diese zeilen zur gänze verstehen". Eindeutigkeit oder klare Botschaften wird man in den „fachsprachen“ vergeblich suchen. Finden wird man allerdings einen unermesslichen Schatz an klanglichen, rhythmischen und semantischen Möglichkeiten. Ein Abenteuer. Ganz große Unterhaltung. Und eine unerschöpfliche intellektuelle Herausforderung: „weshalb man nicht selten in brüten verfällt. welches immer noch anhält", „gefällt? schon – aber! kein weiteres gelaber."
Daniel Falb: die räumung dieser parks. kookbooks, Idstein 2003, 72 S., 13,80 Euro.
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"ich fand den briefkasten nicht, oder vielmehr nur den briefkasten". So lautet ein bezeichnender Vers aus dem bezwingenden Debütband des Berliner Dichters Daniel Falb. Was ist das für eine befremdliche Konjunktion, „oder vielmehr"? Wird hier, was ziemlich ungewöhnlich wäre, ein Fehler korrigiert und das glatte Gegenteil behauptet? Oder wird, was noch ungewöhnlicher wäre, etwas präzisiert, in die Richtung, das vorgeblich zwei Dinge nebeneinander existieren sollen, die nicht nebeneinander existieren können? Briefkasten oder nicht Briefkasten, möchte man fragen, muss es aber nicht. Der Vers mutet paradox an, und als wäre der, der ihn äußert, nicht ganz bei Sinnen. Schwer vorstellbar auch, dass man „nur“ den Briefkasten findet, drumrum das unermessliche Nichts – in diesem Fall wäre wohl Letzteres die eigentliche Meldung. Aber um Meldungen geht es hier zum Glück nicht. Auch nicht um Berichte, Reportagen oder Romane. Sondern um Gedichte, um Gedichte zumal, die in doppelter Hinsicht Gedichte der Gegenwart sind: Zum einen wohnt ihnen ein kritisches Sprachbewusstsein inne, ein unhintergehbarer, von vielen Reimfetischisten aber beharrlich ignorierter Standard der Moderne. Zum anderen sind sie in heutiger Sprache geschrieben, nicht in irgendeinem modischen Slang, sondern in einem banalen, jedem verständlichen Umgangsdeutsch (wenn auch manche Fachtermini, gerne aus der Neuropsychologie, unauffällig und herrlich in die Irre führend, eingeflochten sind). Und Falb glückt es wie nur wenigen, die Alltagssprache der Spannung des Gedichts auszusetzen, seiner rhythmischen und semantischen Komplexität. Ihm gelingt das, indem er der Sprache einen doppelten oder dreifachen Boden einzieht und nicht selten so tut, als sei alles ganz bodenlos. Einerseits fängt er mit dieser logischen Abgründigkeit, die allem Sprechen a priori eingeschrieben ist, die vordergründige Banalität der Sprache ab. Auf der anderen Seite verleiht er dem Umstand, dass Bedeutung unmöglich zu fixieren ist – dieser Aporie der Sprache - eine frappierende Anschaulichkeit. Und das Erstaunlichste dabei: Daniel Falbs Gedichte machen großen Spaß.
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