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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



September 2005 Gerald Fiebig
für satt.org

Albrecht Rau: Hirnschrittmacher. Gedichte.
Ubooks Verlag 2005, 122 Seite, Euro 10,90

Albrecht Rau: Hirnschrittmacher. Gedichte.

Albrecht Rau: Stimmbandsalat.
CD. gebrauchtemusik 2003, Euro 6,-

Stimmbandsalat

Stephan Hebel, Wolfgang Kessler, Wolfgang Storz: Wider die herrschende Leere
Neue Perspektiven für Politik und Wirtschaft. Druck- und Verlagshaus Frankfurt am Main/Publik-Forum Verlagsgesellschaft 2005, Euro 13,90.

Wider die herrschende Leere

»Der Himmel hängt
voller Arschgeigen«

Albrecht Raus Gedichtband „Hirnschrittmacher“ ist das Buch zur aktuellen Gemütsverfassung der Republik

"Hirnschrittmacher“ heißt das erste Buch des Augsburger Lyrikers Albrecht Rau. Der Titel des Gedichtbandes benennt genau das, was Deutschland vor der Wahl fehlt und zweifellos auch nach der Wahl fehlen wird, wenn sich die hartnäckige große Depression auf die anstehende große Koalition reimen wird.

Den Ausweg aus der Krise kann auch Albrecht Rau nicht zeigen. Dafür sind Sachbücher geeigneter wie die solide argumentierende, faszinierend materialreiche und begründet optimistische Denkschrift „Wider die herrschende Leere – Neue Perspektiven für Politik und Wirtschaft“ von Stephan Hebel, Wolfgang Kessler und Wolfgang Storz. Das Verdienst von Poesie in der gegenwärtigen Situation kann es aber sein, uns in aller Dichte damit zu konfrontieren, wie weit es schon mit uns gekommen ist, wohin uns die politisch-soziale Lage schon getrieben hat: In reine, nackte Angst. Angst vor der Pleite. Angst vor dem Durchbrennen aller sozialen Sicherungen. In Albrecht Raus Gedichten zeigt sie sich als Angst etwa vor der sexuellen Insolvenz in der erweiterten Sonderwirtschaftszone der Samstagnacht, dem Unmöglichwerden dauerhafter Beziehungen oder gar Familienplänen, Angst vor dem vereinsamten Sterben als „Einzelmännchen“ in einer Welt, in der nur die Wirtschaft global agiert, während die Spielräume des Individuums immer geringer werden. Angst davor, dass „Ich-AG“ und Abstieg in die Obdachlosigkeit tendenziell immer näher aneinanderrücken. Angst davor, den „Stimmbandsalat“ der entmenschten Medienfressen von Bohlen bis Stoiber nüchtern ertragen zu müssen, und Angst vor dem Alkoholismus, vor „Dosenbier und Depressionen".

Dabei enthält das Buch keine politischen Polemiken. Hier spricht ein besorgtes, angstvolles, zweifelndes, verzweifelndes lyrisches Ich zu uns. Wie in den besten Gedichten von Rolf Dieter Brinkmann, aber auch Charles Bukowski oder Jörg Fauser (denen der lakonische und gelegentlich schnoddrige Ton Raus näher steht) lässt sich auch in Albrecht Raus Texten am Elend einer einzelnen Psyche die Malaise einer ganzen Gesellschaft ablesen. Das ganze Buch scheint eine einzige Frage zu stellen: Wo ist der Ausweg?

Gerhard Merkel und Angela Schröder, die gesichtslosen Charaktermasken des internationalen Finanzkapitals, servieren uns die alten Antworten ("Wachstum. Wachstum. Wachstum."), ohne zu bemerken, dass es für die staatliche Wirtschaftspolitik in Zeiten der Globalisierung höchste Zeit wäre, neue Fragen zu erfinden, weil es Arbeit für alle und Wachstum nie wieder geben wird. Die Lyrik von Albrecht Rau hingegen gibt unserer allgegenwärtigen Ratlosigkeit mit provokativem Nachdruck eine Stimme, die uns wirklich zum Nachdenken zwingt, wenn wir wollen, dass es weitergeht. Die poetisch gebändigte Angst erweist sich als echter „Hirnschrittmacher", denn echte existenzielle Angst ist so stark, dass sie sich mit den schalen Tröstungen der Politik nicht beruhigen lässt und sich deren immer neue Zumutungen irgendwann nicht mehr gefallen lässt, weil sie nichts mehr zu verlieren hat.

Die Bändigung der Angst in Raus Texten erfolgt nicht über Formstrenge, sondern über Humor. Jener Humor mag Hörern von Raus Texten, die ihn von seinen zahlreichen Auftritten bei Poetry Slams oder von seiner CD „Stimmbandsalat“ her kennen, am stärksten im Gedächtnis sein. Beim Lesen der Texte – viele seiner Spoken-Word-Favoriten finden sich auch im Buch – fällt auf, wie schwarz der Humor ist, welcher Sarkasmus hinter den Kalauern steckt. Man begreift, dass die teilweise derbe Obszönität keine effektheischende Koketterie mit dem Tabubruch ist, sondern das verzweifelte Umsichschlagen eines lyrischen Ichs in panischer Abwehr der gesichtslosen Sprachmasken der offiziellen Diskurse. Der Humor wurzelt nicht mehr in Gewissheiten, er ist haltlos, bodenlos, abgründig geworden.

So lässt uns Albrecht Rau einen Blick in jenen Abgrund tun, vor dem wir heute stehen. Die Parteien behaupten, nach dem 18. September wären wir einen großen Schritt weiter. Wahrscheinlich haben sie Recht. Es ist an uns, uns unsere Besorgnis, unsere Angst nicht so billig abkaufen zu lassen – auf dass sie sich irgendwann in Widerstand gegen die Obszönität der Verhältnisse verwandeln mögen. Albrecht Raus „Hirnschrittmacher“ kann uns dabei helfen.