Irgendwann im Herbst 1998 lauschte ich während einer Autofahrt mit wachsendem Interesse einer literarischen Lesung im Radio: Der mehrfach ausgezeichnete ostdeutsche Autor Ingo Schulze stellte ein neues Buchprojekt vor. Schon seinen Romane „33 Augenblicke des Glücks“ und „Simple Storys“ (letzteres laut Autor sächsisch, nicht englisch auszusprechen) zählten für mich zum Besten, was ich in den letzten Jahren im Meer der neuen deutschen Literatur entdeckt hatte. Zu meiner Überraschung war diesmal von einer Novelle die Rede, von einer Schülernovelle: Der Hauptheld des Textes, ein Oberschüler der Dresdner Kreuzschule namens Enrico Türmer, traf sich (im gelesenen Textausschnitt) während der Siebziger Jahre mit einem gleichaltrigen Freund, den er in jeder Hinsicht anzuhimmeln schien, in einem typischen Dresdner Café jener Zeit. Aha, dachte ich damals, jetzt versucht Schulze sich an einem „Zögling Törless“ mit ostdeutschem Hintergrund, interessante Idee … Ich mochte die Aussicht auf eine Schilderung des ostdeutschen Alltags im literarischen Blick zurück (d.h. weder als verfassungspatriotische Sensationskolportage noch als Kabarettnummer) und nahm mir fest vor, diese Novelle zu kaufen, von der nach Eindruck der Radiolesung zu erwarten war, dass sie bald schon auf den Markt kommen würde.
Aber dann hörte man jahrelang überhaupt nichts mehr von Ingo Schulze und seinem geplanten Buch und ich fragte mich, ob entweder ich die Lesung damals falsch verstanden hatte, oder ob der Schriftsteller gar vor den großen Erwartungen der Leser und der Kritik in die Knie gegangen sein mochte. (Gewundert hätte es mich nicht, nach allem, was über Ingo Schulze schon damals gesagt und geschrieben wurde.) Sieben Jahre später betritt Enrico Türmer dann doch die Bühne der Literatur, und zwar als Hauptheld eines Romans von fast achthundert Seiten. „Neue Leben“ hat Ingo Schulze das gewichtige Buch betitelt ( - weswegen der ostdeutsche Pragmatiker zunächst an einen verblichenen sozialistischen Jugendbuchverlag und der norddeutsche an eine populäre Versicherungsanstalt denken mag, während der patriotische Schöngeist aus dem Süden hoffnungsfroh aufhorcht - Sollten die Ossis doch noch eine Spur von Einsicht und Dankbarkeit zeigen, wenn auch nur in einem Buchtitel? - was natürlich noch lange nicht das Ende der Assoziationsmöglichkeiten ist).
In Hunderten leichthin lesbarer Briefe - geschrieben zwischen Januar und Mitte Juli im „wunderbaren Jahr der Anarchie“ 1990, als der Osten Deutschlands nicht mehr zum Ostblock und noch nicht zum Westen gehörte - beschreibt Enrico Türmer sein bisheriges Leben und seine Versuche, in der unübersichtlichen Gegenwart zurechtzukommen und sich als Redakteur einer freien Zeitung in der ostdeutschen Provinz zu etablieren. Seine Adressaten sind drei besondere Personen: Zum einen seine Schwester Vera, zu der er ein beinahe inzestuös enges Verhältnis pflegte – mit ihr bespricht Türmer vor allem seine persönliche und die familiäre Entwicklung in der Erzählzeit von 1990. Zum zweiten ist da sein Freund Jo, Johann Ziehlke, ein Freund aus alten Schultagen (für Kenner des ersten Novellentextes unschwer als der angehimmelte Freund aus dem Café erkennbar), dem er vor allem das Abenteuer der Gründung einer ersten freien Zeitung in der Kleinstadt Altenburg (damals noch unentschieden zwischen Sachsen und Thüringen) schildert. Und da ist zum dritten jene ihm nahezu unbekannte Bamberger Journalistin Nicoletta Hansen, der er in dem Versuch, ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung zu erlangen, sein ganzes bisheriges Leben erklärt – ohne freilich je eine Antwort auf seine liebevoll ausführlichen Briefe zu bekommen.
All diese Briefe ergeben ein Bild vom geistigen Wirrwar und dem Neuanfang im deutschen Osten. Die Vielzahl abstruser und dennoch glaubhafter Episoden und die eigenwilligen Typen, die man dabei kennenlernt, entwickeln einen Sog, der den Leser selbst nach achthundert Seiten Lektüre schließlich mit dem Wunsch entlässt, er wüsste gerne auch, wie es nun weitergeht … Die Wirren der Wendezeit aus der Perspektive eines jungen Mannes zu erzählen, der weder Stasispitzel, noch Bürgerrechtler oder gar Sozialist ist und der zudem größtenteils in einer provinziellen Kleinstadt abseits der großen Ereignisse lebt, erweist sich als erfreulich klischeefreier Ansatz, der es dem Autor erlaubt, genaue Alltagsbeoachtungen mit großer Aussagekraft einzubringen, die man bei diesem Thema sonst eher selten findet und die mit fortschreitender Lektüre den Charme der Geschichte entscheidend prägen. Neben der (noch immer) atemberaubend Zeitgeschichte der Wende und originellen psychologischen Porträts (z.B. Türmers Mutter) würzen die inzwischen vergessenen Kleinigkeiten, die persönlichen und lokalen Eigenheiten des ostdeutschen Sich-Durchwurtschelns, den Fortlauf der Geschichte: Schulze hat sie bis in die Sprache hinein genau vermessen und so literarisiert, das sie atmen - und den Leser immer wieder ein verstehendes „ach“ entlocken können.
Ein wichtiges Thema der Briefe Türmers ist der begrabene Traum, als Schriftsteller mit widerständischer Geste berühmt zu werden – der Mauerfall verhinderte, dass derlei Erfolge so billig wie einst zu haben wären. Einige von Türmers literarischen Versuche, dem eigenen Anspruch als „werdender Autor“ gerecht zu werden, sind im Anhang des Buches wiedergegeben. In den letzten Briefen an Nicoletta Hansen beteuert Türmer, er hätte diese „Verworfenen Manuskripte“ gerne im Ofen verfeuert, wenn seine Wohnung nur einen solchen gehabt hätte. So nutzte er die Rückseiten als Schreibpapier für neue Pamphlete an jene unbekannte Westdeutsche, von der er sich Verständnis ersehnt. In den etwa einhundert Seiten des Anhangs findet sich dann unter anderem (neben einer haarsträubenden Fäkalstory mit der Türmer seiner Wut und Verzweiflung über die Lächerlichkeit der letzten Kommunalwahlen der DDR in gut sorokinscher Manier Ausdruck verleiht) auch eine Novelle mit dem Titel „Titus Holm – eine Novelle aus Dresden“ wieder. Dies alles wie gesagt als Texte des Haupthelden Enrico Türmer ediert, die sich angeblich auf den Rückseiten einiger Briefe an Nicoletta Hansen fanden – ein Privatarchiv der Absurditäten, das Schritt für Schritt deutlich macht, aus welchen merkwürdigen Verhältnissen in was für eine verwirrend andere Situation die Leute im östlichen Teil Deutschlands im Jahr 1990 stolperten.
Die mehrschichtige Textstruktur (Texte, Briefe, Herausgeberkommentare) im Zusammenklang mit der skurrilen Figur des Baron Barrista - eines abenteuerlustigen Westdeutschen, der unvermittelt in der Altenburgischen Szenerie von 1990 auftaucht und uns und Türmer durch das Buch begleitet, um bei der Entstehung der neuen Zeitung ebenso zu helfen wie er den Kontakt zum alten Erbprinzen des Altenburger Adelshauses herstellt – lässt eine der literarischen Reminiszenzen erkennen, die Schulze behutsam in seine Texte einflicht – Kater Murr lässt grüßen. Und, ich will es so sagen: Herrlichster irrelevanter Surrealismus erwarten den Leser hin und wieder in Schulzes Buch – aber stets im braven Gewand einer privat-zeitgeschichtlichen Briefchronik.
Ähnlich wie bei „33 Augenblicke des Glücks“ führt sich Ingo Schulze mit einem Vorwort nicht als Autor, sondern als Herausgeber jener Türmerschen Briefsammlung in den Text ein, der eigene Projekte zugunsten dieser interessanten Materialsammlung gern zurückstellt. Auf den folgenden siebenhundert Seiten meldet sich dieser Herausgeber dann jedoch auf nahezu jedem Blatt mit kommentierenden Fußnoten zu Wort (was dem Leser mitunter ganz schön auf die Nerven gehen kann, Schulze jedoch die Möglichkeit gibt ironisch-besserwisserisch den eigenen Text zu unterlaufen). Natürlich hat der Wahnsinn Methode: Es entsteht eine zweite Textebene, die den Leser immer wieder zwingt, das Gelesene zu hinterfragen. So beugt Ingo Schulze erfolgreich einer Gefahr vor, in die sich alle begeben, die von jenen schicksalhaften Zeiten schreiben oder lesen - der historischen Legendenbildung mit literarischen Mitteln. Bis zur persönlichen Danksagung am Ende des Buches treibt der Autor sein Herausgeberspiel: Dort wird neben zahlreichen bekannten real existierenden Personen (den Lektorinnen usw.) auch Elisabeth und Vera Türmer sowie Johann Ziehlke (Mutter und Schwester bzw. Freund Jo) - also drei Figuren aus dem Text - für die Hilfe beim Zustandekommen des Buches gedankt.
Seit Mitte der Neunziger Jahre erklingt immer wieder der fordernde Ruf nach DEM Wenderoman. Zahl- (nicht selten auch ziel-) lose deutschdeutsche Literaturdebatten und etwa zweihundert größere und kleine Wenderomane später können wir jetzt, ohne rot zu werden, feststellen: Hier ist er.
Auch wenn Ingo Schulze selbst das Wort Wenderoman scheut (weil „Die Wende“ angeblich eine Vokabel sei, die erst der letzte DDR-Potentat Egon Krenz in die Öffentlichkeit eingeführt hätte): Er hat mit seinen Türmer-Briefen das bisher anspruchsvollste literarische Werk dieses Genres geschaffen, das gleichzeitig von interessanten Neuigkeiten wimmelt. Das alles hat man so noch nicht gelesen. Man kann darüber streiten, ob bestimmte dramaturgische Kniffe (der Herausgeber, der Anhang) wirklich nötig waren, ärmer machen sie beim Lesen auf keinen Fall. Trotz aller Tragikomik des Geschehens: Hier wird mit keiner Zeile Geschichte in billigen Klamauk verwandelt, wie es andere Autoren in einer Art zu spät kommenden Widerstand gegen ein untergegangenes System mehr oder weniger unterhaltsam betreiben: Wer Schulzes Buch liest, weiß (im Gegensatz zu anderen neuen Romanen über die DDR und ihr verworrenes Ende) hinterher etwas, was er vorher nicht wußte. Dieser geistige Zugewinn und die Leichtigkeit der Lektüre bei einem so gewichtigen und hochkomplexen Thema sind es, die Ingo Schulzes Buch zu einem Ausnahmetext, zu einem großen Roman machen. Darüber wird zu reden sein.